Middlesex und wir

Ende April 2010 hat die Leitung der Londoner Universität Middlesex beschlossen, ihre BA-, MA- und PhD- Programme in Philosophie zu schließen – aus „rein finanziellen Erwägungen“, wie aus Erklärungen des Universitätsmanagements zu entnehmen ist. Die Entscheidung stößt aus guten Gründen auf weltweite Empörung. Schließlich bedeutet dies nicht nur das Ende für das größte philosophische Master-Programm seiner Art in Großbritannien, sondern auch für das international anerkannte Centre for Research in Modern European Philosophy, eine der führenden britischen Forschungseinrichtungen für kontinentale Philosophie. Die herausragende Stellung der philosophischen Forschung in Middlesex belegen auch die Ergebnisse der – allerdings nicht unumstrittenen – letzten nationalen Forschungsevaluation RAE (Research Assessment Exercise) 2008: Die Philosophie erreichte hier die besten Ergebnisse der gesamten Universität, nahezu zwei Drittel der Forschungsleistungen werden mit den Bestnoten 3* und 4* bewertet, d.h. als weltweit führend und exzellent eingeschätzt.
Vor Ort haben die Betroffenen eine eindrucksvolle Protestkampagne auf die Beine gestellt, um die Schließung zu verhindern. Ausführliche Hintergrundinformationen dazu bietet die Kampagnen-Homepage Save Middlesex Philosophy!, Aktuelles der Twitter-feed. In den letzten Tagen haben die Auseinandersetzungen nochmals eine Zuspitzung erfahren – zwei der an den Protesten beteiligten Professoren und einige Studierende sind mit sofortiger Wirkung suspendiert worden und dürfen den Campus nicht mehr betreten.
Die Rettungskampagne erfährt breite internationale Unterstützung, wie die Herkunft der Petitions-Unterzeichner anschaulich illustriert. In einem offenen Brief fordern eine ganze Reihe prominenter Philosophen, darunter Alain Badiou, Etienne Balibar, Judith Butler, Simon Critchley, Peter Sloterdijk und Slavoj Zizek die Universitätsleitung von Middlesex auf, noch einmal nachzudenken und von der „schädlichen und verfehlten Entscheidung“ zurückzutreten; über 17.000 Unterzeichner hat die Online-Petition für den Erhalt bis heute gefunden; die von Middlesex-Studierenden eingerichtete Facebook-Gruppe hat mittlerweile über 13.000 Mitglieder.
Sicherlich ist die Entscheidung des Universitätsmanagements allein schon im nationalen Rahmen ein besonderer wissenschaftspolitischer Skandal, gerade weil hier eine Einrichtung geschlossen werden soll, die nicht nur nach den neuen Evaluations- und Steuerungsinstrumenten zur Spitze gehört, sondern, was für philosophische Forschungseinrichtungen selten ist, sogar Geld in die Kassen bringt (ausführlichere Hintergrundinformationen hierzu auf der Kampagnenseite; eine exzellente Analyse der spezifischen Situation der britischen Universitäten bietet das Blog Future Thoughts).
Die internationale Empörung, vor allem von Seiten der akademisch situierten Philosophie, verweist auf die weitreichendere, ja gewissermaßen symbolische Bedeutung der Vorgänge in Middlesex. Vielleicht zeigt sich hier in verdichteter und schärfer erkennbarer Weise, was an vielen Orten zwar wahrgenommen und befürchtet wird, jedoch bislang offensichtlich nicht befriedigend aus kritischer Perspektive artikuliert werden kann: der reale oder erwartete Rück- und Umbau der Humanities und die wachsende Geringschätzung gegenüber nicht-anwendnungsorientierten und ökonomisch scheinbar nicht verwertbaren Wissensformen. Middlesex stellt damit auch eine Aufforderung dar, über die gesellschaftliche Rolle der Humanities neu nachzudenken und gute Begründungen zu entwickeln, um ihren Erhalt rechtfertigen und erfolgreich verteidigen zu können.
De te fabula narratur“ („die Geschichte handelt von dir“ – ein Horaz-Zitat, das vor fast 150 Jahren ein genauer Beobachter der ökonomisch-politischen Verhältnisse in England seinen deutschen Lesern mit auf den Weg gegeben hat) – unter diesem Titel hat Jason Read lesenswerte Überlegungen zu möglichen Verteidigungsstrategien in diesem und anderen Fällen in seinem Blog veröffentlicht: Eine erste – die schwächste – könne herausstellen, dass in den Humanities Fertigkeiten erworben werden, die auch in der Wirtschaft dringend benötigt werden; eine zweite, gewissermaßen konservative könne sich auf die Tradition, auf das universitäre Ideal der freien Bildung berufen; eine dritte und vom Autor präferierte könne und solle die Universität selbst als Schauplatz gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse und politischer Verteilungskämpfe begreifen:

This strategy is to see the university not as some exception to society, as an ivory tower, but as fully a part of the social factory, of the production and reproduction of knowledge, which is to say wealth, in society. […] To put it briefly the contemporary university is an object lesson in the inseparability of the economic and the political.

Save Middlesex Philosophy!

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8 Kommentare zu “Middlesex und wir

  1. And what if – or so ideally – the humanities follow a distinct ‚logic‘, the logic of truth, and that logic is incommensurable or even directly opposed to the logic of generating wealth for the (particularist) powers that be? What good reasons could one come up with in accordance with the former(!) to convince the latter not to tighten the noose? This looking for arguments, that is here being recommended, the all too quick confusion/leveling of the two masters: „knowledge, which is to say wealth“ already points clearly in the direction in which lies the regression of humanities into servile funding-speak. Fidelity to truth is the only ‚choice‘ for humanities, if that entails an exodus … so be it.

  2. I agree: using the term „wealth“ indeed hints at this wrong direction/logic. But I think the point Read makes in his text is yet to defend: Because truth-seeking also has a political function – for it should be accompanied by the critical reflection of our political, social and cultural self-understandings, and is therefore not only, but also a part of political and social fights. With other words: the humanities should not only be seen as the place for truth and impartiality (for this counts for the natural sciences as well), but also a critical activity – and defending the humanities as a place for truth is itself, as one can see in the case of Middlesex, political action. But a simple retreat would not only fail the second function – to cease to be a critical activity, but also to give up on the fight to justify the place of truth and its critical reflection within society. An exodus — that could indeed be a course of action(!), but where to? Is there a promised land, or, at least, some manna to survive the desert?

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