theorieblog.de | Europas Furcht vor dem Fremden: Das belgische Burka-Verbot

6. Mai 2010, Spohn

Das belgische Parlament hat ein Gesetz beschlossen, welches das Tragen von Ganzkörperschleiern künftig verbietet. Wie Zeit Online zusammen mit den Agenturen dpa und AFP berichtet, stellt das Gesetz „das Tragen jedes Kleidungsstücks, welches das Gesicht ganz oder hauptsächlich verhüllt“, unter Strafe. Darunter fallen die Burka, die ein Stoffgitter vor die Augen setzt, und der Nikab, bei dem ein Sehschlitz frei bleibt. Ein Verstoß soll ein Bußgeld von bis zu 250 Euro oder sieben Tage Gefängnis nach sich ziehen. Der Beschluss hat auch in der Blogszene für Reaktionen gesorgt. Die Mädchenmannschaft und fxneumann sind sich einig, dass die Regelung weniger auf das Wohl der Betroffenen als auf die Behaglichkeit der Mehrheitsgesellschaft zielt. In der Tat bedeutet das Verbot eine einseitige Einschränkung der Religionsfreiheit und ist nach dem Schweizer Minarettverbot ein weiteres Beispiel für die in Europa grassierende Islamophobie.

Das Verschleierungsverbot gilt laut Zeit Online an Orten, die der Öffentlichkeit zugänglich sind. Darunter fielen den Parlamentariern zufolge neben Straßen, Parks oder öffentlichen Gebäuden auch Geschäfte und Restaurants. Die Bewegungsfreiheit der Betroffenen wird also erheblich eingeschränkt – wenn sie an den religiösen Kleidungsvorschriften festhalten, können sie praktisch keinen Fuß mehr vor die Haustür setzen. Während in der gleichen Diskussion in Frankreich der Parlamentspräsident Bernd Accoyer die Ablehnung der Burka damit begründet, dass der Ganzkörperschleier den Werten der französischen Republik widerspreche, kleidet man die Islamskepsis in Belgien in ein eher technisches Vokabular: Burka-Trägerinnen seien ein „Sicherheitsrisiko“, weil Schleier die Identifikation unmöglich machten. Die Psychologin Deniz Baspinar kommentiert dieses Vorgehen in ihrer „Kölümne“ für Zeit Online so: „Man tut, als gehe es nicht um den Islam, sondern um eine ganz und gar unideologische Verwaltungsmaßnahme wie das Anbringen von Straßenschildern, und doch wird gleichzeitig der allzeit präsente Zusammenhang von Islam und Terrorismus hergestellt.“ Ihrer Einschätzung nach ist das belgische Burka-Verbot „eine im höchsten Maße symbolische Handlung, die in erster Linie nach ‚innen’ wirken soll.“ Der Mehrheitsgesellschaft werde damit signalisiert, „dass man etwas gegen ‚den Islam’ unternimmt, dass man dessen angeblich aggressiver Ausbreitungslogik etwas entgegenzusetzen hat.“ Die Begründung des Verbots aus Sicherheitsgründen kommt tatsächlich fadenscheinig daher, vor allem, wenn man bedenkt, dass das Parlament unter anderem Karnevalskostüme von der Regelung ausgenommen hat. Wenn es rein um das Problem der Identifikation einer Person geht, wieso sollte dann ein solches Verschleierungsverbot auf religiöse Praktiken Anwendung finden, auf mit dem Karnevalsbrauch verbundene Praktiken aber nicht?

Da Argumente mit Bezug auf die öffentliche Sicherheit im Fall von Minaretten (wie sie der Blogger Alexander Limacher in den Kommentaren zu seinem Hauptartikel anführt) und Burkas eher wenig Überzeugungskraft haben, werden sie durch den Rekurs auf Werte (westliche, christlich-abendländische, französische etc.) ergänzt. Meist wird hier auf die mit der französischen Revolution in Zusammenhang stehenden Leitwerte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ angespielt. Die Unvereinbarkeit der Burka mit diesen Werten wird damit begründet, diese sei „ein mobiles Gefängnis“ (Bart Somers) und „ein Zeichen für die Unterwerfung der Frau und für radikalen Fundamentalismus“ (Bernd Accoyer). Das Problem daran ist die autoritative Festlegung des Bedeutungsgehalts eines vieldeutigen religiösen Symbols. Rainer Forsts Argument gegen das französische Kopftuchverbot in seinem Buch Toleranz im Konflikt(2003) kann auch gegen das belgische Burka-Verbot angeführt werden: Aus der Tatsache, dass das Tragen einer Burka erzwungen sein kann, wird unzulässigerweise darauf geschlossen, dass dies generell eine oppressive Praxis ist. Damit, so Forst, werde einem vieldeutigen Symbol eine moralisch negative Bedeutung verliehen, die Gefahr laufe, ethisch-religiöse Identitäten zu missachten: „Aus dem Versuch, die Intoleranz zu bekämpfen, wird selbst eine Form der Intoleranz.“ In Anlehnung an die Argumentation von Seyla Benhabib in ihrem Buch Another Cosmopolitanism(2008) kann man sagen, dass es demokratischer und fairer wäre, den Betroffenen die Chance zu geben, an der Interpretation ihrer eigenen Praktiken teilzunehmen, statt dass ihnen die Bedeutung ihrer Handlungen durch das belgische oder französische Parlament diktiert wird.

Mit Blick auf die von liberalen Demokratien vertretenen Werte erscheint jedenfalls nicht das Tragen einer Burka, sondern eher das Verbot dieser Praxis als problematisch. Wie Charles Taylor in seinem Vorwort zu dem von Geoffrey Brahm Levey und Tariq Modood herausgegebenen Buch „Secularism, Religion and Multicultural Citizenship“ (2009) beschreibt, sind diese Werte in Bezug auf Religionsfragen folgendermaßen zu verstehen: Freiheit heißt hier Religionsfreiheit, also das Recht auf freie Religionsausübung. Gleichheit bedeutet, dass die Angehörigen verschiedener Religionen bzw. Konfessionen gleichberechtigt sein müssen. Brüderlichkeit meint, dass alle religiösen Gruppierungen gehört und in den Prozess der politischen Identitätsfindung der Gesellschaft einbezogen werden müssen. Das einseitige Verbot muslimischer religiöser Bekleidung verletzt sowohl das Recht der betroffenen Frauen auf freie Religionsausübung als auch ihren Anspruch, als Gleiche behandelt zu werden (z.B. im Vergleich mit christlichen Nonnen, die ja auch außerhalb der Klostermauern ihre religiöse Tracht tragen dürfen). Zudem ist die paternalistische Festschreibung der Bedeutung der Burka als Symbol der Oppression als eine Missachtung des Grundsatzes der Brüderlichkeit zu werten. Das Burka-Verbot stellt den Versuch dar, ein bestimmtes Freiheitsverständnis und eine spezifische Vorstellung vom guten Leben für alle Mitglieder der politischen Gemeinschaft verbindlich durchsetzen zu wollen. Das Bekenntnis des liberal-demokratischen Staates zu den Werten der Freiheit und Gleichheit bedeutet aber gerade, dass er die moralische Autonomie seiner Bürgerinnen und Bürger, ihren eigenen Lebensstil zu wählen, anerkennt. Mit den Worten von Gérard Bouchard und Charles Taylor: „[T]he believer or the atheist can, for example, live according to his convictions but he cannot impose on others his way of life.“

Selbst wenn hinter dem Burka-Verbot wohlmeinende Absichten stecken sollten, sind seine Auswirkungen in der Praxis für betroffene Musliminnen mit Blick auf ihre Entfaltungsmöglichkeiten so oder so negativ, wie Baspinar treffend feststellt. Diejenigen Musliminnen, welche die Burka freiwillig tragen, werden dafür kriminalisiert. Und denjenigen, welche die Burka unter Zwang tragen, ist mit einem Verbot auch nicht geholfen. Denn es ist kaum zu erwarten, dass das Verbot des Kleidungsstücks durch den Staat für diese Frauen eine Befreiung aus ihrer familiären Unterdrückung bewirkt. Im Gegenteil, ihre Bewegungs- und Handlungsfreiheit wird dadurch nur noch stärker eingeschränkt, als sie es ohnehin schon ist. In Bezug auf die Patriarchen, die ihnen die Verhüllung aufzwingen, wird das Gesetz sicher keine liberalisierenden Effekte haben. Es wirkt als ein Signal der Ablehnung: „Ihr und eure Praktiken seid hier unerwünscht!“, und statt einer Liberalisierung der Einstellung dieser Männer zu ihrer eigenen Religion erntet man durch ein Verbot eher Feindseligkeit und Abschottung. Wenn das Ziel eine Liberalisierung religiöser Praktiken ist, dann ist der belgische Staat besser damit beraten, den muslimischen Frauen auch mit Burka die Gelegenheit zu geben, mit der Mehrheitsgesellschaft in Berührung zu kommen. Er müsste in Zusammenarbeit mit muslimischen Verbänden (Informations-/Freizeit-/Hilfs-)Angebote schaffen, die den Frauen und ihren Angehörigen signalisieren, dass sie in ihrer Religiosität ernst genommen und respektiert werden, und die gleichzeitig Alternativen im Umgang mit dem Glauben eröffnen. Die Verordnung der weiblichen Autonomie per Gesetz aber bewirkt, zumindest in diesem Fall, wohl eher das Gegenteil.


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