Lesenotiz: Mittelweg 36

Die aktuelle Ausgabe des Mittelweg 36 (Februar/März 2010) ist der Stalinismus-Forschung gewidmet und dokumentiert u.a. Beiträge der Tagung Stalin and Stalinism. Roadmaps for Future Research, die das Hamburger Institut für Sozialforschung im Oktober 2009 veranstaltet hat (Tagungsbericht hier). Auf zwei Essays in dieser Ausgabe soll kurz hingewiesen werden

Ideologie als Lebensform

Vor allem möchte ich auf den Aufsatz Alltag in der Ideologie. Leben im Stalinismus hinweisen, in dem Jochen Hellbeck den Begriff der Ideologie, der seiner Auffassung nach in der alltagsgeschichtlichen Totalitarismus-Forschung zu sehr in den Hintergrund getreten ist, wieder in die Debatte einführen möchte. Hellbeck interessiert sich für das Leben mit und insbesondere in der Ideologie, er fragt nach ihrer Attraktivität für das Individuum, d.h. danach, wie die stalinistische Ideologie sich auf Subjektivierungsprozesse auswirkte. Die Sowjetideologie funktionierte, so Hellbeck, nämlich wesentlich anders als ihr bürgerliches Pendant (das transparent, unsichtbar und Herrschaft verschleiernd auf das Unbewusste zielt), da sie ausdrücklich den bewussten Umgestaltungs- und Selbsterneuerungswillen der Einzelnen im Visier gehabt habe. Hellbecks Ideologiebegriff ist folglich ein mehr mit Foucault und weniger mit Marx gedachter: Es geht ihm um die produktive Macht und die Kraft, die Einzelnen in „ideologische Subjekte“ zu verwandeln, das Vermögen, die individuellen Leben bis in die kleinsten Poren zu gestalten, und dabei außerordentliche Selbstbindungskräfte hervorzubringen. Diesem Gedanken konkretisiert Hellbeck am Beispiel der Tagebuchaufzeichnungen des „Kulaken“sohns Stepan Podlubnyi, der in den 30er Jahren nach Moskau flieht, um seine Klassenzugehörigkeit zu überwinden, nach und macht das, was er unter ideologischer Selbstkonstruktion bzw. Subjektivierung versteht, sichtbar. Das Tagebuch des Stepan Podlubny schildert ein „Auf und Ab von Bemühungen, sich in die sozialistische Ordnung zu integrieren“, doch es ist auch eine Erzählung von den Paradoxien und Abgründen, in die das „ideologische Subjekt“ schließlich gestürzt wird; es wandelt sich im Laufe der 30er Jahre von einem Instrument des Selbstentwurfs zu einer „desillusionierten Chronik des Zeitalters“. Offen bleibt am Ende jedoch nicht nur die Frage, die Hellbeck selbst formuliert: Wie es denn kam, dass die „außerordentliche Selbstbindung der Stalinära“ schließlich doch diffundierte. Auch bleibt erklärungsbedürftig, warum die wirksame „Erzählung der Selbsttransformation“ nur „im Kontext der Gewalt heranreifen“ konnte und schließlich doch gerade in der Hochzeit des Terrors 1937 verschwand; hier geht es um den Zusammenhang von Ideologie und Gewalt. Es wäre für die Totalitarismusforschung durchaus spannend, diese und daran anschließende Fragen im Lichte von Hellbecks produktivem Blick auf die lebensgestaltende Kraft der Ideologie weiter nachzugehen. Für neugierig gewordene hier noch ein Hinweis auf Hellbecks Arbeit Revolution on My Mind: Writing a Diary Under Stalin

Erinnernswert

Wolfgang Kraushaar erzählt in der Protest-Chronik die Geschichte der Schauspielerin Jean Seberg (bekannt vor allem aus Jean-Luc Godards genialem Außer Atem (http://www.imdb.com/title/tt0053472/)) und erinnert die persönlichen und politischen Umstände, die zu ihrem Selbstmord im Jahre 1979 führten.


Maike Weißpflug ist Doktorandin am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen. In ihrer Dissertation fragt sie nach der Möglichkeit einer politischen Theorie im Spannungsfeld von Urteilskraft, Politik und Literatur. Weitere Forschungsinteressen sind: Probleme und Methoden politischer Ideengeschichte, ältere und neuere Ansätze einer kritischen Gesellschaftstheorie.

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