Justice is what democracies make of it – Dritter und letzter Teil des Konferenzberichts von der Sektionstagung in FFM

I.
Zum Abschluss des dreiteiligen Konferenzberichts zur diesjährigen Frühjahrssektion (Teil 1 hier, Teil 2 dort) nun noch ein Blick auf den zweiten Tag, sowie einige allgemeine Überlegungen zum Gesamteindruck der Tagung. Am Freitag näherten sich die Vorträge stärker konkreten Policy- und Polity-Problemen aus der Gerechtigkeitsperspektive. Als loser, immer wieder aufblitzender roter Faden kristallisierten sich dabei „soziale Rechte“ heraus, die das Potential haben, Demokratie- und Gerechtigkeitsdebatten fruchtbar zu verknüpfen, deren Stellenwert aber kaum systematisch verortet wurde.

Beim zweiten Panel des Tages (eine Zusammenfassung des ersten Panels findet sich bereits bei Tamara) wurden mit Jörn Knoblochs Ausführungen zu „Demokratie und Politiknetzwerken“ klassische Fragen der Demokratietheorie verhandelt: Arkanpolitik (die im Geheimen stattfindet) und Legitimationsprobleme. Knobloch (Uni Potsdam) beschrieb Öffentlichkeit als unverzichtbare Kategorie, die – je nach Demokratiemodell – entweder als „Medium gesellschaftlicher Selbsterfahrung“ oder als „normativer Begriff in einem Freund-Feind-Schema“ Verwendung finde. Durch Politiknetzwerke (Michael Th. Greven spezifizierte zutreffend, dass Knoblochs Gegenstand nicht auf Netzwerke allgemein, sondern auf durch Hybridität und Informalität gezeichnete Governance-Praktiken abziele) werde die traditionelle Rolle der Öffentlichkeit unterlaufen. Dennoch trifft nach Knobloch die Netzwerke nicht der Vorwurf der Ungerechtigkeit, solange wir es mit einem gerechten Souverän zu tun hätten. Knoblochs Hinweis, die liberale Demokratie könne offensichtlich ganz gut mit den Politiknetzwerken leben, da es ansonsten eine breite Protestbewegung geben müsste, greift auf eine Luhmannsche „Legitimation durch Verfahren“ zurück. Die Argumentation geriet aber durch die Einwände Emanuel Richters, dass der Gegenbegriff der Öffentlichkeit die Privatheit sei und dass der genealogische Kontext von Zivilgesellschaft und Experten stärker zu berücksichtigen sei, unter Beschuss. Überhaupt wurde nicht klar, wie die Gerechtigkeit des „Souveräns“ aussehen soll, wenn der Bereich der Arkanpolitik zulasten der Öffentlichkeit ausgedehnt werde. So blieb die Formel des gerechten Souveräns nicht unwidersprochen: Kommentator Greven erkannte in diesem Punkt gar einen fragwürdigen Schmittianismus.

Den Freitagnachmittag eröffneten Hans-Jürgen Burchardt und Ingrid Wehr (Uni Kassel). Ihr Vortrag warf einen Blick auf die Situation in Lateinamerika. Der dortige Kontext wolle sich europäischen Erwartungen im Hinblick auf Zusammenhang von Demokratisierung und sozialer Ungleichheit kaum fügen: die eklatant höhere soziale Ungleichheit (in erster Linie festgemacht an Ungleichheiten im Einkommen) sei entgegen verbreiteter Annahmen weder auf fehlende Traditionen von Sozialstaatlichkeit in den lateinamerikanischen Staaten, noch auf anteilmäßig geringe Wohlfahrtsausgaben dort zurückzuführen. Obwohl sich die dortigen Länder bisweilen teure Wohlfahrtsregime leisteten, trügen diese kaum nennenswert zum Abbau gesellschaftlicher Ungleichheiten bei, sondern bedienten mit ihren Leistungen die ohnehin materiell privilegierten Schichten. Gleichwohl wird nicht nur die Einkommensverteilung von der Bevölkerung dort als ungerecht empfunden, im Gegensatz zu den am Samstag von Armin Schäfer für die Bundesrepublik referierten Befunden (siehe den Bericht von Maike) beteiligten sich in Lateinamerika die benachteiligten Schichten in großer Mehrzahl an den Parlamentswahlen. In der Diskussion wurde allerdings kritisch angemerkt, dass der historische gesellschaftliche Kontext unzureichend berücksichtigt werde: Weder sei die Rolle von blutigen Militärdiktaturen auf dem südamerikanischen Kontinent im 20. Jahrhundert, deren Folgen bis heute die Politik zugunsten privilegierter Eliten strukturieren, reflektiert, noch fänden die Erfolge und Misserfolge der seit mehreren Jahren amtierenden Linksregierungen Eingang in die Argumentation.

Im Beitrag von Claudia Wiesner (Uni Marburg) zu „Bürgerschaft, Demokratie und Gerechtigkeit in der EU“ wurde Bürgerschaft definiert als formalisierte Beziehung zwischen einem Kollektiv und seinen Angehörigen. Wiesner konstatierte, dass im Zusammenhang der Europäischen Integration sich ein Formwandel vollziehe, in dem die Bindung von Bürgerschaft an nationalstaatliche Zugehörigkeit zunehmend gelockert würde. Daran anschließend versuchte sie eine Bilanzierung nach (allerdings nicht explizit gemachten) Gerechtigkeitsaspekten dieser neuen Bürgerschaftsform. Die „sektorale Bürgerschaft“ der EU verspreche Rechte für Teilnehmende des gemeinsamen Marktes sowie Gewinne bei Negativrechten (z.B. im Bereich der Antidiskriminierung); dem stünden aber Gefährdungen bereits erreichter sozialer Rechte durch EU-Recht entgegen – so im Fall von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse oder durch ein mögliches race to the bottom bei der Liberalisierung von Dienstleistungserbringung. Bedauerlicherweise endete Wiesners Vortrag allerdings da, wo es wirklich spannend geworden wäre: Als Lösung gegen die Dynamik von „negativer Integration“ in der EU schlug sie das von Klaus Busch ausgearbeitete „Korridormodell“ vor, bei dem sich die Mitgliedstaaten verpflichten sollen, ein bestimmtes Niveau an Sozialschutzquote nicht zu unterschreiten, um einen Dumping-Wettlauf zu verhindern. Allein am Beispiel der Bundesrepublik hätte sich aber zeigen lassen, dass eine quantitative Bestimmung dieser Art zu erheblichen Verteilungskonflikten führt und bestimmte wirtschaftspolitische Optionen ausschließt.

II.
Abschließend und als Ergänzung zu den drei Tagungsberichten noch einige kritische Anmerkungen vom Verfasser dieses dritten Teilberichts. Mein Ziel ist es, auf nicht oder zu wenig berücksichtigte Gesichtspunkte aufmerksam zu machen.

(1) Gerechtigkeit ist nicht nur ein umkämpfter Begriff. Es ist auch ein Begriff, dem wir zugestehen, Anleitung zur Gestaltung von Gesellschaften zu liefern. Deswegen, und wegen der folgenden Aspekte, ist eine noch stärker interdisziplinär angelegte Debatte – vor allen mit Soziologie und Ökonomie – angemessen und wertvoll. Das konnte die Tagung sicherlich nur begrenzt leisten, künftige Versuche wären aber wünschenswert. Zu einer Zeit, in der immerhin in einem Mitgliedsland der EU die Demokratie in wichtigen wirtschafts- und verteilungspolitischen Fragen suspendiert wird, müsste politische Theorie glaubhaft insistieren können, dass es sich hier um genuin politische und nicht technokratisch-administrative Fragen, um Fragen von Herrschaft handelt (bei seinem Vortrag am Donnerstag bestand Rainer Forst zu Recht darauf, dass Verteilungsergebnisse immer auch Ausdruck politischer Herrschaftsverhältnisse sind). Wie aber Demokratie und Gerechtigkeit systematisch zusammenhängen, was wir vor allem von letzterem Begriff gebrauchen können, um ersteren zu verteidigen (und umgekehrt), blieb weithin unklar.
(2) Es klang so Vieles unausgesprochen, vielleicht auch unbedacht mit, das ins Licht geholt werden sollte. Ein fehlendes verbindendes Element der Debatte scheint mir die Grundtatsache der Knappheit zu sein. Der Impuls, Gerechtigkeit als normativ akzeptables Verteilungsverfahren oder -ergebnis zu beschreiben, verdankt sich im Kern der Intuition, dass wir es mit knappen Gütern zu tun haben. Die Knappheit der Güter muss allerdings nicht zwingend mit der Annahme eines homo oeconomicus verbunden werden, (im Hinblick auf das besondere Gut der Elternschaft, das am Samstag verhandelt wurde, erweist sich diese basale Denkfigur sogar als komplett unbrauchbar). Wie aus dem Vortrag von Carolin Stange über geistiges Eigentum am Samstag zu lernen war [Link zu Maike], sind grundlegende Institutionen unserer Wirtschaftsweise gefährdet, wenn ihnen der Status der Knappheit durch technischen Fortschritt entzogen wird. Die Reaktion der bislang profitierenden Akteure kann man auch so lesen, dass sie die bisher vorhandene Knappheit mit politischen Mitteln retten wollen.
(3) Das führt mich zum nächsten Punkt, dem Begriff der sozialen Grundrechte. Hier wurde beständig der Hinweis auf den britischen Nachkriegssoziologen T.H. Marshall gebracht, die stichwortartige Verwendung blieb aber unzureichend. So wurde nicht erörtert, dass soziale Grundrechte nur Substanz haben, wenn sie als Garantien auf Umverteilung, auf Anteil am gesellschaftlich hergestellten Reichtum, der als Einkommensanteil oder unentgeltlicher Zugang mit Gütern und Dienstleistungen in Anspruch genommen werden kann, gelesen werden. Die Rückseite dieser Rechte ist allerdings, dass die Verteilungsmasse erarbeitet werden muss, weswegen Marshall in seinem berühmten Vortrag von 1949 darauf bestand, dass die Ermöglichung dieses Rechts gleichzeitig die Pflicht zu harter Arbeit für alle bedeuten muss.
(4) Gerechtigkeitstheorie geht es nicht zuletzt immer um die Rechtfertigung von Ungleichheiten. Im hier oft verhandelten, klassischen „Trade Off“ von Equality vs. Effiency liegt auch das Verbindende zur zeitgenössischen demokratietheoretischen Debatte, wo Governance-Strukturen und andere im Hinblick auf das demokratische Gleichheitspostulat problematische Politikmodelle mit Hinblick auf optimalere Verteilungsergebnisse gerechtfertigt werden. Was aber, wenn die angesprochene Tatsache der Knappheit auf einmal gesellschaftlich vorhandenen Ungleichheiten in Bedrängnis bringt? Im Hinblick auf Nachhaltigkeit ist sehr gut ein Szenario denkbar, bei dem eine Begrenzung des Verbrauchs natürlicher Ressourcen effektiv zum Plädoyer für Höchsteinkommen (auf die Einkommenseliten sich kaum freiwillig einlassen) oder für die Preisgabe souveräner Verfügung über natürliche Ressourcen auf einem Staatsterritorium (die für Peripheriestaaten mit kolonialer Vergangenheit kaum akzeptabel sein werden) führen, die an politischer Brisanz kaum zu überbieten sind. Ob wir die Frage demokratie- oder gerechtigkeitstheoretisch betrachten: Die Zukunft bleibt spannend.

Alban Werner ist Doktorand am Institut für Politische Wissenschaft an der RWTH Aachen und Redakteur der Zeitschrift „Das Argument“. Seine Dissertation befasst sich mit politischer Opposition in europäischen Wohlfahrtsstaaten im gesellschaftlich-politischen Strukturwandel. Er interessiert sich für die Grundfragen politischer Soziologie, insbesondere Demokratie-, Staats- und Herrschaftstheorien.

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