Frankfurter Bilderstreit – Erster Teil des Konferenzberichts von der Sektionstagung in FFM

Der hochkarätig besetzte erste Tag der DVPW-Theoriesektionstagung „Demokratie und Gerechtigkeit in Verteilungskonflikten“ (pdf-link zum Programm) hat alte Klischees auf durchaus kurzweilige Art und Weise aktualisiert: Frankfurter Theoretiker lieben Methodenfragen, die angewandte Weltrettung überlassen wir lieber unseren Britischen Kollegen und bei zu stark frisierten Denkexperimenten der analytischen Philosophie pocht die Sektion nicht nur auf ihre politischen Wurzeln, sondern wird gar emotional (das allerdings erst am Freitagmorgen). Notgedrungen bleiben bei diesem kurzen Bericht viele wundervolle Beiträge gänzlich unerwähnt, so dass ich mich hier nur mit der Oberflächlichkeit des Mediums und der Bitte um Ergänzungen und Kommentare entschuldigen kann. Das Gleiche gilt in Bezug auf die äußerst kursorische Widergabe höchst komplexer und vielschichtiger Auseinandersetzungen, auch hier sind Kommentare und Ergänzungen sehr willkommen.

Einen ersten Höhepunkt der Tagung bot sicherlich das, was man als „Frankfurter Bilderstreit“ bezeichnen könnte. Dieser drehte sich um die Frage welches Bild unser Verständnis von Gerechtigkeit am Besten versinnbildlicht: Sollen wir uns eine Mutter vorstellen, die einen Kuchen zwischen ihren Kindern verteilt? Oder ist der Begriff der Gerechtigkeit besser erfasst durch das Bild gerechtfertigter Verhältnisse, in denen Jede frei von der Willkür Anderer ist (zugegebenermaßen als Bild etwas weniger, hhm, plastisch).
Gegen das erste Bild – das „distributive Paradigma“ der Gerechtigkeitstheorie – zog Rainer Forst zu Felde. Gegen das zweite Bild und in Verteidigung des distributiven Paradigmas positionierte sich dagegen Stefan Gosepath, der sich mit seinem Vortrag gleichsam als neuer materialer Stachel im prozeduralen Frankfurter Fleisch präsentierte. Forst kritisierte das erste Bild als ein irreführendes, weil es Gerechtigkeit auf die Distribution von Gütern reduziere und damit die politische Frage nach der Rechtfertigbarkeit intersubjektiver Strukturen und Machtverhältnisse ausklammere. Das distributive Paradigma frage nicht danach, wie das zu verteilende Gut in die Welt komme und wer das Recht habe, es zu verteilen – wie wird man also Mutter oder interessanter: wo bleiben eigentlich die Kuchen backenden Väter? Gegen das Forst’sche Gerechtigkeitsbild führte Gosepath eine Reihe von Argumenten ins Feld, u.a. gemahnte er, dass nur ein hypothetisch konstruiertes distributives Ideal tatsächlich existierende Ungleichheiten wirkungsvoll zu kritisieren in der Lage sei. Sein grundlegendster Einwand gegen Forst: das Recht auf Rechtfertigung sei ein moralisches Recht, das immer gelte. Aus der allgemeinen Rechtfertigungsbedürftigkeit jeder Handlung, die einen fremden Willen betrifft, folge aber noch keine Begründung politischer Herrschaft. Die Kurzschließung von Gerechtigkeit und Legitimität im Forst’schen Modell sei daher unüberzeugend.
Hier unterschlägt Gosepath freilich die besondere Bedeutung des Geltungsgrunds der Macht – da wo Menschen ihren gegenseitigen Willen durch irgendwie bereits politische Strukturen beeinflussen, wird das Recht auf Rechtfertigung von einer moralischen zu einer Forderung der Gerechtigkeit. (Was das in Bezug auf institutionelles Design etc. bedeutet ist freilich auch bei Forst unterdeterminiert. Wir haben es hier mit einem begrifflichen Streit über die Umstände zu tun, in denen wir sinnvoll von Gerechtigkeitsproblemen überhaupt sprechen können). Einen Punkt landete Gosepath immer dann, wenn er darauf pochte, dass auch im Forst’schen Paradigma letztlich der Philosoph im Ohrensessel – und kein faktisch deliberativer Prozess – die normativen Gründe der Gerechtigkeit liefern müsse. Ob das distributive Paradigma der Gerechtigkeit damit insgesamt erfolgreich verteidigt worden ist, lasse ich – unter Verweis auf die hier noch viel zu selten genutzte Kommentarfunktion – mal offen. Auf jeden Fall ist der Frankfurter Bilderstreit mit Gosepaths Vortrag in eine neue Runde gegangen…

Die beiden Gäste aus Oxford – David Miller und Simon Caney – parierten diesen deutschen Methodenstreit mit angelsächsischem Pragmatismus. Beide Protagonisten in der Diskussion um die Geltungsreichweite globaler Gerechtigkeitsprinzipien beschäftigten sich in Frankfurt mit angewandten Fragen der Verteilgerechtigkeit: David Miller fragte nach der Bedeutung und Wichtigkeit von Fair Trade, Simon Caney nach der fairen Verteilung von CO2-Ausstößen.
Millers Paper suchte dabei – in Anlehnung an seine neusten Arbeiten – eine mittlere Position zwischen Kosmopolitismus und Nationalismus zu formulieren. Er revidierte damit seine frühere Ansicht, dass Fair Trade sich mit reziproken Handelsbeziehungen zwischen Staaten bereits erledigt habe. Stattdessen gehe es auch darum, dass zumindest die negativen Rechte von Individuen durch Handel nicht verletzt würden, sowie darum deren minimale Bedürfnisse durch faire Preise zu sichern. Den eigentlichen Grund für Fair Trade sah Miller damit in den Bedürfnissen der armen Handelsteilnehmer gegeben. Gerade angesichts der in internationalen Handelsbeziehungen extremen Machtungleichgewichte, hätte es sich jedoch angeboten, Faktoren der prozeduralen Fairness und Nicht-Dominierung hier zentraler in den Blick zu nehmen.
Caney argumentierte in seinem Vortrag gegen den „equal per capita view“, der besagt, dass CO2 Ausstöße dann gerecht verteilt seien, wenn deren pro Kopf Rate gleich ist. Dieser – vor allem in der policy-Diskussion weit verbreiteten (philosophisch wohl weniger häufig verteidigten) Ansicht, warf Caney Isolationismus und Atomismus vor. Eine faire Verteilung der CO2-Emissionen, könne nur holistisch durch eine Theorie distributiver Gerechtigkeit gelöst werden, die legitime Interessen in Hinblick auf multiple Faktoren bestimme (historische Schuld, differentielle Bedürfnisse etc.). Der „equal per capita view“ würde die „Ressource“ der CO2-Emission fälschlich reifizieren, und damit interessante Verteiloptionen – wie etwa die Nichtproduktion von CO2 durch Ressourceneffizienzgewinne – außer Acht lassen. Damit griffen beide Briten aktuelle und wichtige Fragen auf, beide traten mit dem erklärten Ziel an, die gesellschaftliche Relevanz analytischer Philosophie unter Beweis zu stellen.

Die Relevanz analytischer Grundlagenforschung stand dann im Zentrum einer erbittert, ja trauen wir uns ruhig, emotional geführten Debatte am Freitag Morgen. Mit seinem Vortrag zu „Vorrang, Gleichheit und die Verschiedenheit von Personen in Verteilungskonflikten“ erhitzte Gabriel Wollner, Doktorand am University College London, die Gemüter.
Wollner versuchte, unsere Intuitionen über gerechte Verteilprinzipien knapper Güter anhand konstruierter Gedankenexperimente zu testen. „Stellen sie sich vor, Sie haben zwei Kinder. Eins ist behindert und würde von einem Umzug in die Stadt Nutzen ziehen. Das andere Kind ist gesund und würde eher von einem Umzug aufs Land profitieren. Zwar wäre die absolute Nutzenfunktion beim zweiten Szenario größer – jedoch würde der Abstand zwischen dem behinderten und gesunden Kind noch vergrößert werden. Wie würden Sie entscheiden?“ Mit solchen Szenarien aus der analytischen Philosophie versuchte Wollner, „unsere“ Intuitionen zwischen konkurrierenden Verteilprinzipien auszuloten. In einer äußerst hitzigen Diskussion wurde Wollners Grundlagenfrage als zu unpolitisch befunden und „solche“ Art des Philosophierens als Zeitverschwendung gebrandmarkt. Auch fand sich so manch einer bei der Beschreibung „unserer“ Intuitionen nicht wieder, so dass ganz allgemein deren epistemische Verallgemeinerungsfähigkeit in Zweifel gezogen wurde. Zurecht wurde die Übertragbarkeit der von Wollner vorgestellten Gedankenexperimente auf größere Sozialzusammenhänge bezweifelt (was natürlich schön an den Frankfurter Bilderstreit anschließt: erschöpfen Prinzipien über die richtige Verteilung von Gütern bereits den Wert der Gerechtigkeit?).

Nicht unerwähnt bleiben darf auch die äußerst professionelle, inklusive und durchdachte Konferenzorganisation durch Regina Kreide, Claudia Landwehr und Katrin Toens. Insbesondere der Abend im Gästehaus der Universität Frankfurt bot neben kulinarischen Genüssen die Möglichkeit zur vertieften Diskussion und soll – so munkelt man – recht spät in einschlägigen Lokalitäten der Frankfurter Szene geendet haben.

Tamara Jugov (jugov[at]em.uni-frankfurt.de) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für internationale politische Theorie und Philosophie der Universität Frankfurt. Sie beschäftigt sich dort unter anderem mit der Frage nach den Geltungsgründen globaler Gerechtigkeit.