Lesenotiz zu Philipp Erbentrauts „Theorie und Soziologie der politischen Parteien im deutschen Vormärz 1815-1848″

Foto: Mohr Siebeck

Langsam, doch spürbar rücken Parteien wieder in den Fokus der politischen Theorie. Die Auseinandersetzung reicht vom Phänomen der populistischen Parteien (Müller 2016, Jörke/Selk 2015) über Fragen des Parteienverbots (Rosenblum 2007, Niesen 2012) und der innerparteilichen Demokratie (Wolkenstein 2016) bis hin zu Versuchen der grundsätzlichen Neubestimmung des normativen Status von Parteien (Muirhead 2014, White/Ypi 2016). Philipp Erbentraut bereichert diese Debatte, indem er an ganz ähnlich gelagerte Auseinandersetzungen im deutschen Vormärz erinnert. Sein zweifacher Anspruch ist es, unser Bild vom politischen Denken des Vormärz zu revidieren und zugleich neue Impulse für die heutige Debatte zu gewinnen. Einer dieser Impulse, so möchte ich in Zuspitzung einiger Überlegungen von Erbentraut zeigen, entsteht, wenn man die vormärzliche Parteientheorie als Beitrag zum Verständnis demokratischer Transformationen deutet. (mehr …)

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Lesenotiz: Reicht uns das? Politische Theorie als bloße Begleitung

Was kann und soll politische Theorie? Diese Frage will Oliver Flügel-Martinsen mit „Befragungen des Politischen. Subjektkonstitution – Gesellschaftsordnung – Radikale Demokratie“ beantworten. Sein Ziel ist es, die „Implikationen und Konsequenzen des Denkens des Politischen für zentrale Themen und Aufgaben politischer Theorie zu reflektieren.“ (S. 2). Das Denken des Politischen (in Abgrenzung zu Politik) befindet sich angestoßen von frankophilen Theorieentwicklungen auch in Deutschland in den letzten Jahren in der Diskussion. Nun hat Flügel-Martinsen eine Studie zum Politischen, zu dessen ideengeschichtlicher Grundlage und demokratietheoretischen Implikationen vorgelegt, die sich erstens recht deutlich von Marcharts einschlägiger Monografie „Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben“ abgrenzt und zweitens eine erstaunliche Antwort auf die Ausgangsfrage gibt: Aufgabe politischer Theorie ist die bloße reflektierende Begleitung der Kämpfe sozialer und politischer Bewegungen. (mehr …)

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Andreas Cassees Plädoyer für globale Bewegungsfreiheit – Zugang zu Institutionen oder zu Territorien?

cassee_bewegungsfreiheit_coverAndreas Cassees „Globale Bewegungsfreiheit“ ist zwar, wie es im Untertitel heißt, ein Plädoyer für offene Grenzen, das von einer Grundsympathie für Migrierende getragen ist. Dennoch funktioniert es auf Grund seines sehr klaren Aufbaus und der einfachen, zugänglichen Sprache auch als eine ausgezeichnete Einführung in die Migrationsethik. Das Buch ist eine tour de force, die alle wichtigen Positionen in der englischsprachigen und in der deutschen Literatur zur Frage eines Rechts auf globale Bewegungsfreiheit in überschaubarem Umfang zusammenfasst, in eine Beziehung zueinander stellt und kritisch bespricht. (mehr …)

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Das Bedürfnis der Sozialkritik: Franck Fischbachs „Manifest für eine Sozialphilosophie“

Cover Fischbach (c) Transcript VerlagAuf Seite der „Beherrschten“ (71) manifestiert sich im neoliberalen Zeitalter mehr und mehr das Bedürfnis einer eingreifenden Sozialkritik – das ist die wunderbar konkrete und parteiische Motivation, die Franck Fischbachs  Manifest für eine Sozialphilosophie (jüngst auf Deutsch erschienen) konsequent antreibt (10, 17). Fischbach versucht hier die Sozialphilosophie als einen selbstbewussten und eigenständigen Diskurs der praktischen Philosophie zu etablieren, der dieses kritische Bedürfnisses reflexiv begleiten soll. Das Provokante dieses Versuches ist nun, dass er systematisch gegen die als hegemonial empfundene „klassische“ bzw. liberale politische Philosophie (bes. Rawls) gerichtet ist: Ihr Fokus auf die normativen Grundlagen einer gerechten politischen Ordnung produziere nämlich einen Begriff des Politischen, der letztlich apolitisch bleibt, weil er nicht das Soziale als einen „gespaltene[n] und grundsätzlich konfliktuelle[n] Raum“ (12) in den Blick bekommt, in dem jeder Impuls der Kritik jedoch operiert. Auf diese „Konfliktualität“ (87) insistiert dagegen Fischbach! Dadurch gibt er der Kritik ihre nötige Arena. Aber unterbestimmt bleibt dabei, wie sie dann in dieser Arena wiederum philosophisch und gesellschaftstheoretisch fundiert bzw. verortet werden soll. (mehr …)

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Lesenotiz: Tocquevilles „neue politische Wissenschaft“ und ihre aktuelle Relevanz

Lesenotiz zu Harald Bluhm und Skadi Krause (Hrsg.): Alexis de Tocqueville. Analytiker der Demokratie, Paderborn: Fink 2016.

Die westlichen Demokratien erleben gerade ihre größte Krise seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Man verfolgt mit Staunen, wie der Kapitalismus sich von der bürgerlichen Gesellschaft entkoppelt und zum Motor neo-feudaler und postdemokratischer Entwicklungen wird. In den Gelehrtenstuben und manchen politischen Kreisen wird, verzweifelnd und hoffend, wieder Marx gelesen, während man, mit leichtem Schaudern, Foucaults neoliberale Gesinnungen entdeckt. Auf der Straße und in den Parlamenten der USA und der Peripherie wie den Kernländern der EU erstarken derweil populistische Revolten und neue rechte Bewegungen, die mit ihrem Neonationalismus nicht nur den politischen status quo in Frage stellen, sondern letztlich die egalitär-universalistischen Verfassungsordnungen des modernen Konstitutionalismus mit seinen Wurzeln in der Amerikanischen und der Französischen Revolution. (mehr …)

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(K)eine Erzählung. Zu Albrecht Koschorkes „Hegel und Wir“

Lesenotiz zu: Koschorke, Albrecht (2015): Hegel und wir. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2013. Berlin: Suhrkamp.

Wer eine Vorlesung, die den Namen Adornos trägt, hält, stellt sich in eine Tradition, die kritisches Denken als zentrale Aufgabe der Theorie ausweist. Nun dienen die Adorno-Vorlesungen seit ihrer Etablierung im Jahre 2002 nicht als Medium der Exegese seines Werkes und stellen kein pedantisches Klammern an ihren Namensgeber dar. Doch das selbsterklärte Ziel der Vorlesung ist es immerhin, „mit Adorno über Adorno hinaus“ zu denken (Honneth zitiert nach TAZ online), wie Axel Honneth, Direktor des IfS, selbst betont. Damit steht immer auch die Frage nach der Verfasstheit der Gesellschaft und ihrer Kritik im Raum. (mehr …)

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Krisendiagnosen der Demokratie – Einige Lesenotizen

Im letzten Semester habe ich an der Goethe-Universität in Frankfurt ein Seminar zum Thema „Krisendiagnosen der Demokratie“ gehalten. In dem Seminar wurden eine Vielzahl klassischer und aktueller Krisendiagnosen vorgestellt und es wurde diskutiert, wie Krisen und Kritik auf den Wandel von Form und Gehalt der Demokratie wirken. Den Syllabus des Seminars könnt ihr hier einsehen.

Eine der Leistungsanforderungen in dem Seminar war das Verfassen einer Rezension zu einem aktuellen Buch, welches sich mit der Krise der Demokratie beschäftigt. Aus der großen Zahl sehr guter Rezension wurden fünf für eine Veröffentlichung hier auf dem Theorieblog ausgewählt, viel Spaß beim Lesen:

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Au revoir demos! – Catherine Colliot-Thélènes „Demokratie ohne Volk“

Lesenotiz zu Catherine Colliot-Thélène 2011: Demokratie ohne Volk, Hamburg: Hamburger Edition.

 

Der moderne Nationalstaat hat als einziger Garant von Rechten die Staatsbürgerschaft nationalisiert. Doch die Anzahl der Machtinstanzen, bei denen das Subjekt die Anerkennung seiner Rechte einfordern kann, ist durch den heutigen Rechtspluralismus gestiegen. Aufgrund dessen kann es für die verschiedene Gruppen schwer sein, ihre Forderungen als eine geeinte Gemeinschaft zu erheben. Oder in den Worten von Catherine Colliot-Thélène, eine französische Philosophin und Professorin an der Universität Rennes I, radikal formuliert: „Durch die Pluralisierung des kratos lässt sich der demos nicht mehr zuordnen.“ (30) Diese Transformation der Bedeutung von Demokratie stellt die Bestimmung der Figur des politischen Subjekts infrage; das zentrale Thema von Colliot-Thélènes Buch „Demokratie ohne Volk“. (mehr …)

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Ist die Demokratie ein überholter Wert? Anmerkungen zu Blühdorns „Simulative Demokratie“

Lesenotiz zu Ingolfur Blühdorn 2013: Simulative Demokratie – Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Berlin: Suhrkamp

 

Viele Krisendiagnosen der Demokratie formulieren ein oder mehrere Gründe dafür, dass die Demokratie bedroht ist oder vor neuen Herausforderungen steht und appellieren meist gleichzeitig an die LeserInnen daran etwas zu ändern. Jacques Rancière zum Beispiel sieht in dem Fehlen von Streit und der Abwesenheit des konstituierten Volks die Demokratie im Zustand der Postdemokratie. (Ranciere 2014) Auch Colin Crouch diagnostiziert eine Entwicklung zur Postdemokratie. In der Postdemokratie bleiben nach Crouch die formellen Institutionen der Demokratie bestehen, die eigentlichen Entscheidungen werden aber an anderen Orten, beeinflusst durch starke Lobbyinteressen, gefällt. Emphatisch plädiert Crouch deshalb in seinem Essay für eine Wiederbelebung der Demokratie. (Crouch 2008) Ingolfur Blühdorn greift mit seinem Buch „Simulative Demokratie – Neue Politik nach der postdemokratischen Wende“ die bestehende Debatte der Postdemokratie auf und fordert in Abgrenzung zu vielen AutorInnen eine realistische Analyse der Demokratie ein, die sich von der normativen Vorbestimmung, dass Demokratie per se positiv ist, lösen muss. (Blühdorn 2013: 42) Eine Erneuerung der Demokratie, wie sie Crouch und andere anstreben, ist gar nicht möglich, da, so Blühdorns zentrale These, der aktuelle Zustand der Demokratie historisch angemessen ist und damit eine legitime Nachfolge der liberal-repräsentativen Demokratie. (186) Damit steht Blühdorns These in einer radikalen Opposition zu der Vielzahl aktueller Krisendiagnosen der Demokratie. (mehr …)

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Die Herausforderungen der europäischen Demokratie

Lesenotiz zu Jürgen Habermas 2013: Im Sog der Technokratie, Berlin: Suhrkamp.

 

Wie weiter mit Europa? Wie weiter mit der Demokratie? Das sind die großen Fragen, mit denen sich der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas seit mehren Jahrzehnten bereits beschäftigt. Im Jahr 2013 hat er den zwölften und letzten Band seiner Reihe „Kleine politischen Schriften“ mit dem Titel „Im Sog der Technokratie“ herausgebracht. Die Aufsätze, die diese Reihe versammelt, sind nicht aus der Perspektive eines Wissenschaftlers, sondern aus der Sicht eines Intellektuellen geschrieben, der ins politische und zeitgeschichtliche Geschehen interveniert. Daher besitzen auch die Texte dieses Bandes eher essayistischen Charakter, was aber keinen Abbruch an analytischer Schärfe und theoretischer Tiefe bedeutet, sondern die Gedanken des Autors zum Thema Europa und europäischer Demokratie auf den Punkt bringen. (mehr …)

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