The Nicest Radical in Town. Zur Aktualität John Deweys

Zum 100-jährigen Erscheinen von John Deweys „Demokratie und Erziehung“ (Teil 5)

John Dewey gehört zu den nice guys der politischen Philosophie. Auf den jüngeren Portraits, die von ihm existieren, mutet er an wie der nette Onkel aus dem Bilderbuch, der stets ein Bonbon für die lieben Kleinen in der Tasche hat. Und in seinen Texten dominiert ein moderater Stil, der frei von aufgeregter Rhetorik ist. Aufmerksamkeit heischende Polemik und ein scheinradikaler Gestus lagen Dewey merklich fern. Seine Philosophie lebt vom Geist des Pragmatismus und Meliorismus, sie transportiert die Überzeugung, dass eine Verbesserung der Situation stets möglich ist. Von der Tragik, die politisches Handeln nicht selten an sich hat, erfährt man in seinen Texten nur wenig. All das kann darüber hinwegtäuschen, dass Dewey ein radikaler Denker war. Mit polemischer Übertreibung, aber nicht ohne Grund wetterte Hayek in seinem Weg zur Knechtschaft, Dewey sei „der führende Philosoph des amerikanischen Linksradikalismus“ (Hayek 1944/1982: Der Weg zur Knechtschaft, S. 46). (mehr …)

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Was wir von Dewey für die Demokratie im 21. Jahrhundert lernen können

Zum 100-jährigen Erscheinen von John Deweys „Demokratie und Erziehung“ (Teil 4)

Mit dem 100. Geburtstag von Demokratie und Erziehung wird deutlich, wie sehr Dewey seiner Zeit voraus war und wie zeitgemäß seine Philosophie heute ist. Das gilt ganz besonders für seine Überlegungen zur Demokratie. Zusammen mit Problemen der Erziehung hat Dewey Probleme der Demokratie identifiziert, die den gegenwärtigen Diagnosen einer „Krise“ der Demokratie ähnlich sind, besonders der Krise der politischen Repräsentation. Sicherlich haben sich die Gesellschaften in den vergangenen 100 Jahren wesentlich verändert, aber wenn man Dewey liest wird klar, dass sich die Demokratie nicht entsprechend weiterentwickelt hat. Ihre Probleme sind genauso alt wie ihre Institutionen selbst. (mehr …)

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Im Zweifel unfertig denken: Gegen den Willen zur Gewissheit

Zum 100-jährigen Erscheinen von John Deweys „Demokratie und Erziehung“ (Teil 3)

„Die Menschen, keiner ausgenommen,
sind überhaupt noch nicht sie selbst.“
(Theodor W. Adorno, Negative Dialektik)

Die wichtigste Einsicht, die wir Dewey zu verdanken haben, ist vielleicht die, dass „die Suche nach einer universalen Gewissheit, die für alles gelten soll“ nichts anderes als eine „kompensatorische Perversion“ darstellt. Positiv gewendet lautet diese Einsicht, dass jeder wirkliche Entwicklungsprozess mit wirklichen Zweifeln einsetzt – nicht mit virtuellen „Papierzweifeln“, wie bereits Peirce an Descartes kritisiert hatte. Der wirkliche Zweifel ist handlungsrelevant und deswegen lebendig. Man kann sich diesen Zweifel als eine Art vorübergehende Standpunkterschütterung vorstellen, die – ob man will oder nicht – die eigenen Kriterien verrutschen lässt. Diese Erschütterungen des Zweifels kann man sich nicht aussuchen, sie beruhen nicht auf Entscheidungen und sind daher keine voluntaristischen Akte, wie Descartes noch dachte. (mehr …)

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Herrschaft, soziale Kämpfe und Lernprozesse bei John Dewey

Zum 100-jährigen Erscheinen von John Deweys „Demokratie und Erziehung“ (Teil 2)

Schon in den ersten Kapiteln von Demokratie und Erziehung wird den Lesern deutlich, dass Erziehung und Lernen für Dewey zentrale Bestandteile der Erfahrung lebendiger Wesen darstellen. Ein Buch über Erziehung ist demnach nur als eine Theorie der erziehenden Dimension der Erfahrung zu entwickeln. Dazu setzt sich Dewey ausführlich mit klassischen Ansätzen der Erziehungstheorie auseinander und behandelt konkrete Fragen, die die genaue Gestaltung erziehenden Praktiken in der Schule betreffen. Ähnlich wie in Deweys Ästhetik, derzufolge Praktiken der Kunstproduktion und -rezeption aus der Hervorhebung der ästhetischen Qualität aller menschlichen Erfahrung entstehen, liegt Demokratie und Erziehung die These zugrunde, dass sich erziehende Institutionen mit der reflexiv gewordenen, in kollektive Verantwortung genommenen Lernfähigkeit der menschlichen Erfahrung beschäftigen. Nichts kann die philosophische Reichweite von Deweys erziehungstheoretischen Reflexionen besser verdeutlichen als seine „fachwissenschaftliche“ Definition von Erziehung: Darin geht es dem pragmatistischen Philosoph zufolge um „diejenige Rekonstruktion und Reorganisation der Erfahrung, die die Bedeutung der Erfahrung erhöht und die Fähigkeit, den Lauf der folgenden Erfahrung zu leiten, vermehrt“. (mehr …)

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Zum 100-jährigen Erscheinen von John Deweys „Demokratie und Erziehung“ (Teil 1: Überblick und Rezeptionsgeschichte)

Am 15. März vor 100 Jahren ist „Demokratie und Erziehung“ erschienen, das wohl bekannteste Buch des amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey. Am vergangenen Wochenende fand die Hundertjahrfeier im Rahmen der Konferenz der American Educational Research Association (AERA) in Washington D.C. statt. Eine große europäische Konferenz ist Ende September an der University of Cambridge geplant. Anlässlich dieses Jubiläums haben Justo Serrano Zamora und ich eine Artikelreihe organisiert, in der die Aktualität von Deweys Philosophie für die gegenwärtige Forschung in den Blick genommen wird. In den nächsten Wochen werden dazu jeden Mittwoch Beiträge von Justo Serrano Zamora, Heidi Salaverría, Thamy Pogrebinschi und Veith Selk erscheinen.

Deweys Buch „Demokratie und Erziehung“ zählt, nicht nur im englischsprachigen Raum, zu den Klassikern der Pädagogik, wird aber in der Philosophie und Politikwissenschaft kaum gelesen – auch unter denjenigen, die sich mit Deweys politischer Theorie auseinandersetzen. Möglicherweise wird es aufgrund des Titels stillschweigend der Pädagogik zugeordnet und fällt somit dem disziplinären Schubladendenken zum Opfer. Dabei ist es gerade einer der Vorzüge des Buchs, dass es – inhaltlich und performativ – disziplinäre Trennungen unterläuft und eine äußerst produktive Vereinigung von politischer Theorie, Sozialphilosophie, Erkenntnistheorie, Handlungstheorie und Pädagogik bietet, die ihresgleichen sucht. (mehr …)

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