Resiliente Demokratie und die Polykrise der Gegenwart

Dies ist der Auftakt zu einer Reihe von insgesamt drei Beiträgen rund um das große Thema „Herausforderungen der Demokratie(theorie)“, die wir in Kooperation mit dem Philosophieblog praefaktisch in den nächsten Wochen immer donnerstags veröffentlichen. Am 7.12. folgt ein Beitrag von Oliver Hidalgo zum Thema „Ein neues Unbehagen in der Demokratietheorie?“ und am 14.12. gibt André Brodocz Antworten auf die Frage „Müssen in einer Demokratie immer alle mit allen reden? Über die Herausforderungen des Populismus an Universitäten„. 

(1) Die Gegenwart ist von einer Polykrise, von zeitgleich stattfindenden, existentiellen Krisen gezeichnet, die sich in ihrer Wirkung verstärken (Tooze 2022): Die Klimakrise wirft mit Extremwetterereignissen ihre Schatten auf eine Welt voraus, die nur mit großen Beeinträchtigungen bewohnbar sein wird; die Corona-Pandemie hat eine tiefgehende Verletzlichkeit selbst von Gesellschaften mit hoch entwickeltem Gesundheitssystem vor Augen geführt; und die Rückkehr des Eroberungskrieges in Europa durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und nun die terroristische Attacke der Hamas auf Israel mit jeweils gravierenden weltpolitischen Folgen stellen für die westlichen, liberalen Demokratien einen unvergleichlichen Schock dar.

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Staat als „archimedischer Punkt“

Lesenotiz zu Hermann Heller: Kleine politische Schriften hg. v. Hubertus Buchstein und Dirk Jörke, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2023. 

Die gegenwärtige politische Lage gleicht nicht jener von Weimar. Zu viel ist ökonomisch, sozial, technisch und politisch heute anders. Dennoch gibt es gute Gründe, sich in der gegenwärtigen veritablen Krise der Demokratie den einstigen Kämpfern für die Weimarer Demokratie mit einem Abstand von nahezu 100 Jahren zuzuwenden – und zwar gerade solchen politischen Denkern, die sich wie Hermann Heller ins politische Schlachtgetümmel gestürzt haben, statt in geschützten, aber sehr moralisierten Räumen von Akademia zu verweilen.  (mehr …)

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Die normativen Normen und die kritische Kritik – eine Polemik

Bedeutet wissenschaftlicher „Pluralismus“ nichts weiter als ein Nebeneinander unterschiedlicher Positionen? Die Politikwissenschaft hat meist darauf verwiesen, dass sich politische Gegner zwar anerkennen können, aber nichtsdestotrotz Gegner bleiben. Agree to disagree – das heißt ja immer noch: disagreeing. Vielleicht hilft es, diese einfache Erkenntnis ab und zu auch auf die eigene Disziplin anzuwenden. Denn in letzter Zeit, so scheint es, hat sich in der deutschsprachigen Politischen Theorie und Ideengeschichte in Sachen Disagreeing eine gewisse Müdigkeit eingeschlichen. Nicht, weil man sich sonderlich einig wäre, sondern weil man offenbar akzeptiert hat, dass grundverschiedene Leute eben grundverschiedene Dinge tun. Aber würde sich das Streiten dann nicht umso mehr lohnen?

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Tagungsbericht: Marx oder die Sintflut

Tagungsbericht zur Tagung „The Futures of Marx“; Volksbühne Berlin, 28. – 29.06.2023.

Die Gründe sich heute wieder mit dem Denken von Karl Marx zu beschäftigen sind vielfältig: Entfremdung im Arbeitsalltag, wachsende Armut, nicht nur im globalen Süden, die zunehmende Bedrohung des planetaren Klimas durch die Folgen des fossilen Kapitalismus, etc. Dementsprechend ließe sich die Frage nach den „Futures of Marx“, die sich die Tagung an der Volksbühne Berlin stellte, auch umdrehen: Ist eine Zukunft ohne Marx überhaupt denkbar? Die Antwort der Tagung schien ein klares Nein: Denn mit Marx stellte sie die Frage nach dem Kapitalismus nicht nur als Frage nach der Ausbeutung des Menschen und der Natur (und der Natur des Menschen) sondern auch als Frage nach den Perspektiven für ein kollektives Handeln gegen denselben – und damit gegen die unweigerlich ins Haus stehende Sintflut. 

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Recht und Utopie? – Pfade in eine neue normative Ordnung (Tagungsbericht) 

Der Anspruch der Frühjahrstagung des Jungen Forums Rechtsphilosophie, die vom 9. bis 11. März 2023 stattfand, war es, in interdisziplinärem Austausch Pfade in eine neue normative Ordnung zu entwerfen, die von bestehender Rechtspraxis ausgehen, diese jedoch grundlegend hinterfragen und in ihren problematischen Dimensionen zu überwinden suchen.  

Welche normative Praxis kann der Prekarität von Gerechtigkeit Rechnung tragen? Wie können Interventionen innerhalb des bestehenden Rechtssystems legitimiert werden? Wie kann Wandel hin zu einer neuen normativen Ordnung aussehen und welche Rolle kann Recht darin spielen? Der Beitrag rekapituliert anhand dieser Fragen die Tagung, die ihrem Titel alle Ehre machte: „Utopie einer neuen normativen Ordnung – Alternativen im Recht/Alternativen zum Recht“  (mehr …)

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Kontestation als produktive Krise 

Das Forum „Krise und Normkontestation“ schließt mit einem Beitrag von Nicole Deitelhoff.

Wer eine Norm kontestiert, erlebt sie als krisenhaft oder will eine Krise der Norm erzeugen, um Veränderungen anzustoßen. Krisen sind Phasen von gravierender Verunsicherung (innerhalb) von Ordnungen. In der Krise fallen Gewissheiten, werden Strukturen brüchig und reißen Interaktionsprozesse ab. Krisen sind Phasen, in denen politische Ordnungen, ihre Normen und Regeln besonders wandelbar sind. Das ist nicht mit Verfall gleichzusetzen. In gewisser Weise sind politische Ordnungen sogar auf Krisen angewiesen, um ihre Normen, Regeln und Verfahren effektiv ändern und sich an veränderte Umweltbedingungen anpassen oder auf gewandelte Einstellungen reagieren zu können. Einige Ordnungen lassen daher Kontestation nicht nur zu, sie fördern sie sogar aktiv: Demokratien nutzen Kontestation, um die eigene Wandlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten und ihre Legitimität zu sichern. Sie begreifen Kontestation als produktive Krise.  

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Die Killer-Roboter sind hier! Krisen als Treibstoff für präventive Rüstungskontrollnormen  

Im Rahmen des Forums „Krise und Normkontestation“ veröffentlichen wir einen Beitrag von Berenike Prem.

Staaten handeln selten vorausschauend. Es bedarf häufig einer Krise, um ein Problembewusstsein zu schaffen, bestehende Normen infrage zu stellen und die Suche nach neuen Normen zu fördern. Der Stellenwert von Krisen für Prozesse der Normkontestation und Genese macht deutlich, vor welchen Herausforderungen Akteure gestellt sind, die antizipative Normen etablieren oder bestehende Normen „fit“ für die Zukunft machen wollen. Diese Normen sind wirksam, noch bevor sich Krisen voll zu entfalten scheinen. Funktioniert Normkontestation also auch ohne Krisen? Dieser Beitrag beleuchtet die Bedeutung von Krisen als endogenem Faktor in Normdynamiken und zeigt, wie sie durch vorausschauende Praktiken visuell, narrativ und performativ konstruiert werden, um normative Veränderungen anzustoßen. Diese Annahmen werden am Beispiel präventiver Rüstungskontrollnormen für neue Waffentechnologien (autonome Waffensysteme) diskutiert. 

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Krise und Normkollisionen

Wir setzen das Forum „Krise und Normkontestation“ mit einem Beitrag von Anna Holzscheiter, Andrea Liese und Sassan Gholiagha fort.

Krisen sind keine objektiven Tatsachen – sie sind intersubjektive Zuschreibungen (siehe auch den Blogbeitrag von Berenike Prem). Krisen sind von Mangel, Unsicherheit und/oder Instabilität geprägte Ereignisse, Zustände oder Prozesse. Die Politik der Krise ist nicht nur die Politik des Krisenmanagements, sondern grundsätzlicher die Politik der diskursiven Verhandlung über das Label „Krise“. Ob und wie eine Deutung von einschneidenden Ereignissen, Katastrophen und (Wandlungs-)prozessen als „Krise“ politisch wirkmächtig werden kann und damit definiert, welche Krisen politischen Handelns würdig sind, ist von herausragender wissenschaftlicher Relevanz. Krisenzuschreibungen sind demnach sowohl zeitlich als auch räumlich kontingent und potenziell umstritten.

In der Politikwissenschaft sind die unterschiedlichen Effekte von Krisenwahrnehmung und -diskurs schon lange systematisch erforscht, allen voran Dynamiken der Versicherheitlichung von Politikfeldern und Problemen jenseits der klassischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Gut erforscht sind auch die Möglichkeiten zur Diffusion von Verantwortung, die Krisenzuschreibungen eröffnen (Externalisierung) sowie die Möglichkeiten, politisches Handeln als zwingend und alternativlos zu rechtfertigen und, schließlich, die Legitimation und Ausweitung exekutiver Kompetenzen, die sehr häufig auch über das Ende der jeweiligen (wahrgenommenen) Krise hinaus bestehen bleibt.  

Unser Beitrag zu diesem Forum stellt Normkollisionen als Begleiterscheinung von Krisen in den Mittelpunkt. Der Zusammenhang zwischen Krisenwahrnehmung einerseits und Normschaffung, Normkontestation und Normwandel andererseits ist, zumindest implizit, schon lange Gegenstand wissenschaftlicher Debatten – auch in der Disziplin der Internationalen Beziehungen (IB) (siehe auch den Beitrag von Laura von Allwörden). Vielbeachtete Fälle von Normkontestation, also der Infragestellung der Normgeltung oder Normanwendbarkeit, sind solche, bei denen – als Reaktion z.B. auf Krisen wie den 11. September 2001 –, weitgehend als universell betrachtete Normen wie das Folterverbot oder das Verbot der Anwendung von Gewalt (Art. 2, Abs. 4 Charta der Vereinten Nationen) angefochten worden sind. Aufbauend auf diesen Debatten stellen wir hier zwei Fragen: Inwiefern machen wahrgenommene Krisen Normkollisionen sichtbar? Und inwiefern eröffnen Krisen mit Blick auf diese Normkollisionen die Möglichkeit, bestehende Normenhierarchien zu hinterfragen? Konkreter diskutieren wir, wie sich disruptive Ereignisse und Prozesse, die mehrheitlich von politischen und gesellschaftlichen Akteuren als Krise wahrgenommen werden, auf Normen und ihre Beziehungen und damit eben auch auf Kollisionen zwischen Normen auswirken. (mehr …)

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Krisen: Depolitisierung und ihre Anfechtung

Den zweiten Beitrag zum Forum „Krise und Normkontestation“ steuert Christian Kreuder-Sonnen bei.

Akute, existentielle Bedrohungen, die unter Zeitdruck politische Antworten erfordern, lassen wenig Raum für argumentative Auseinandersetzung. Die in solchen Krisen eingesetzten politischen Mittel und Maßnahmen entziehen sich daher zumindest kurzfristig oft tiefgehender Anfechtung (Kontestation). Wie ich in diesem Beitrag argumentiere, stellen Krisen jedoch in mindestens zweierlei Hinsicht auch Treiber von spezifischen Praktiken der Normkontestation dar. Zum einen können notstandspolitische Maßnahmen selbst eine verhaltensbezogene Form der Normkontestation darstellen, indem sie in der Praxis mit gewissen Normen brechen und andere Normen implementieren. Zum anderen führt die diskursive Depolitisierung der akuten Krisensituation – gekoppelt mit weitreichenden krisenpolitischen Maßnahmen – mittelfristig zu einer repolitisierenden Gegenreaktion, bei der Normen und politische Institutionen insgesamt mit besonderer Intensität angefochten werden.

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Kontestation und Krise: Zusammen oder getrennt? Das „Henne-Ei-Problem“

Das ist der erste Beitrag des Forums „Krise und Normkontestation“, das von Nils Stockmann und Johanna Speyer organisiert wurde und in dieser Woche auf dem Theorieblog erscheint.

Den Zusammenhang von Krise und Normkontestation – sowohl auf konzeptueller als auch auf empirischer Ebene – kann man als ein sogenanntes Henne-Ei-Problem bezeichnen. Beide Konzepte haben die Gemeinsamkeit, dass sie mit negativen Konsequenzen assoziiert werden. Sie werden als problematisch, kritisch, bedrohlich eingestuft. Daher scheint es dem ersten Eindruck nach nur folgerichtig, dass aus beiden auch immer negative Konsequenzen folgen. 

Jedoch zeigt die Empirie, dass beide auch positive, stabilisierende Effekte haben können. Daher schlage ich vor, in der Analyse des Verhältnisses von Krise und Kontestation diese produktiven, legitimierenden Effekte mitzudenken. Es lassen sich anhand zweier Beispiele, der Covid-19-Pandemie und der Klimakrise, vier Beobachtungen dazu festhalten, in welchem Zusammenhang Krisen und Normkontestation auftreten: Erstens können Normen in Krisen angefochten werden, um zur Lösung des Krisenproblems beizutragen. Zweitens kann die Krise aber auch als Heuristik, ohne den Auftritt von Kontestation, Normen-stärkend wirken. Drittens kann Kontestation in der Krise einen legitimierenden, stärkenden Effekt auf die Norm haben. Jedoch lässt sich auch beobachten, dass viertens eine Kontestation solcher Normen stattfinden kann, die zur Lösung des Krisenproblems beitragen sollen. Daraus lässt sich ableiten, dass es vermutlich keinen temporal-notwendigen, aber einen kontextuellen Zusammenhang zwischen Normkontestation und Krise gibt. 

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