„Wenn die Leute sich etwas vorstellen können, dann wird auch die Zeit kommen, wo sie es vollbringen.“¹ Zur Bedeutung des Imaginären für das Verständnis von Revolutionen

Die tunesische Revolution, die 2011 das autoritäre Regime des seit 23 Jahren in Tunesien herrschenden Präsidenten Ben Ali stürzte, hallte nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch in Europa und den USA als Beginn einer neuen Ära des Protests wider. Sie leitete eine Welle heterogener sozialer und revolutionärer Bewegungen ein, die ein Recht auf (mehr) demokratische Teilhabe, bürgerliche Freiheiten und soziale Gerechtigkeit in Ägypten, Jemen, Bahrain, Spanien, Griechenland, den USA, der Türkei und vielen anderen Ländern forderten. In Tunesien selbst kündigte der Beginn des revolutionären Prozesses vor allem das Ende einer langen Phase der Entmündigung und des Entzugs politischer und sozialer Rechte an. Die tunesischen Bürger*innen kämpfen von 2011 an für politische Freiheiten, eine gerechtere und korruptionsfreie Sozial- und Wirtschaftsordnung, ein unabhängiges Justizsystem und die Verbesserung von Frauenrechten.

Nach einer kurzen Euphorie für die ‚Jasminrevolution‘ beschrieben viele Wissenschaftler*innen und Journalist*innen die tunesischen Proteste als bloße Hungerrevolten oder als kurzlebige Unruhen und befürchteten, dass die einst bürgerlichen Proteste von (islamistischen) Extremisten instrumentalisiert werden. Sie sprachen ihnen ihren inhärent politischen Charakter ab, da sie sie keinem ideologischem oder parteipolitischem Lager zuordnen konnten (vgl. etwa Schulze, 2014: 69; Tibi: 2014, 114). Eine Revolution, die scheinbar spontan und horizontal von ‚einfachen‘ Bürger*innen ohne Leader und ohne Ideologie ausgelöst wurde, schien für viele unvorstellbar. Auch wenn Ideologien tatsächlich keine wichtigen Bezugspunkte für die tunesischen Akteur*innen waren, bedeutet das jedoch nicht, dass die Demonstrant*innen keinerlei politische Ideen oder Vorstellungen hatten. In einer „post-ideologischen“ Welt (Abbas/Sintomer 2021: 36), in der Ideologien ihren einstigen Stellenwert verloren haben, trägt der Begriff des Imaginären dazu bei, die ideelle Dimension von Revolutionen zu erfassen und die politischen Horizonte zu analysieren, die von den Akteur*innen im Zuge von Revolutionen und Protestbewegungen entwickelt wurden.

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„Démocratie à venir” oder „Democracy in Crisis”? Tagungsbericht „Democracy and Resistance“ in Gießen

2011 war das Jahr der Revolutionen, Aufstände und Protestbewegungen, die sich von Tunis und Kairo über Athen, Madrid, New York bis hin nach Tel Aviv und Hong Kong erstreckten. Während der „Arabische Frühling“ in Tunesien und Ägypten durch die Forderung nach demokratischen Grundrechten den Sturz kleptokratischer Regime verursachte, stellten die europäischen und nordamerikanischen Protestbewegungen, wie „Democracia real ya“ oder „Occupy Wall Street“, sich gegen Entpolitisierungstendenzen in modernen Demokratien und das Diktat eines globalen Kapitalismus. Diese politischen Ereignisse bildeten den Referenzrahmen für die theoretische Reflexion über das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Widerstand auf der internationalen Tagung „Democracy and Resistance“, die von Regina Kreide (Universität Gießen) und Petra Gümplova (Universität Gießen) vom 18.-20. Juni in Gießen organisiert wurde. (mehr …)

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Politik und Methode. Bericht vom Treffen der DVPW-Theoriesektion in Bremen – Teil 1

Gegenstand und Methoden politischer Theorie sind innerhalb der Disziplin keineswegs unkontrovers, sondern unterliegen einer ständigen Diskussion. Vor allem die Frage, ob es Sinn mache, in der politischen Theorie überhaupt von „Methoden“ zu sprechen, wird immer wieder thematisiert. Eine solche Diskussion fand vom 28. bis zum 30. September auf der Herbsttagung 2011 der DVPW-Sektion Politische Theorie und Ideengeschichte in Bremen statt (Link zum Programm). Während am ersten Tag das Verhältnis von politischer Theorie zu empirischen Methoden diskutiert wurde, standen am zweiten Tag und dritten Tag das Verhältnis von politischer Theorie zur Moralphilosophie und zu Bereichstheorien im Mittelpunkt der Debatte. Im folgenden Bericht wird der erste Tag bestehend aus zwei Panels und einer Podiumsdiskussion skizziert, der zweite Teil des Berichts folgt morgen. (mehr …)

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