Ist das christdemokratische Zeitalter zu Ende? Jan-Werner Müller vertritt in München eine steile These

Es ist etwas mehr als ein Jahr her, da hätte die Union bei der Bundestagswahl beinahe die absolute Mehrheit erreicht. Der Abstand zur SPD fiel so hoch aus wie zuletzt 1957, als Konrad Adenauer eindrucksvoll im Amt des Bundeskanzlers bestätigt wurde. Ausgerechnet inmitten dieser vielbeschworenen Renaissance der deutschen Christdemokratie verkündete Jan-Werner Müller am vergangenen Montagabend am Geschwister-Scholl-Institut der LMU München das Ende des christdemokratischen Zeitalters. Müller, der an der Universität in Princeton Politische Theorie und Ideengeschichte lehrt, wollte von seiner „steilen These“ noch nicht einmal das notorisch christsozial regierte Bayern ausnehmen. Dafür lieferte er allerhand Gründe. (mehr …)

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Lesenotiz: „Der Andere unter seinesgleichen“. Stefan Müller-Doohms Habermas-Biographie

Stefan Müller-Doohm: Jürgen Habermas. Eine Biographie, Berlin: Suhrkamp-Verlag, 2014.

Pünktlich zum 85. Geburtstag ist im Suhrkamp-Verlag eine voluminöse Biografie über Jürgen Habermas erschienen. Der Autor Stefan Müller-Doohm hat bereits Leben und Werk Theodor W. Adornos rekonstruiert und gehört neben Rolf Wiggershaus zu den profiliertesten Kennern der Frankfurter Schule. Mit Habermas hat sich Müller-Doohm eine schwierige Aufgabe gestellt. Leben und Werk des wichtigsten lebenden deutschen Philosophen geben gleich genug Stoff für mehrere Bücher her; hinzu kommt, dass Habermas mit seinen jüngsten Interventionen zur Zukunft der Europäischen Union präsenter denn je ist. Neben diese zeitpolitische Relevanz tritt noch die unvermeidbare persönliche Verstrickung des Biografen, der auf das Entgegenkommen, die Zeugnisse und Erinnerungen seines Untersuchungsobjekts angewiesen bleibt, um die eigene Arbeit belastbar zu machen. Der Autor oszilliert in solchen Fällen zwischen Nähe und Distanz, er vollführt einen Drahtseilakt. (mehr …)

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Wider das Pathos der Sachlichkeit: „Politische Romantik“

Am Wochenende vor den Osterfeiertagen versammelte die Kulturstiftung des Bundes im Frankfurter Goethehaus eine Melange aus arrivierten Gelehrten und intellektuellen Shootingstars, die den Zündstoff der „Politischen Romantik“ verhandelten. Mancher Besucher verstand es schon als Provokation, dass die Organisatoren in der Geburtsstadt der Kritischen Theorie einen Veranstaltungstitel wählten, der wohl ausgerechnet auf Carl Schmitts gleichnamige Streitschrift aus dem Jahr 1919 verweisen sollte. Der Ko-Kurator der Veranstaltung Stephan Schlak stellte in seiner Begrüßungsrede jedoch augenzwinkernd klar, dass die „gewittrigen Fahnen“ des Kongresses vor allem einen Kontrapunkt zur Alternativlosigkeitsrhetorik der Bundeskanzlerin darstellen sollten, durch deren Politikstil die „Gefahren eines romantisch-dionysischen Überschusses an der Staatsspitze dauerhaft gebannt“ seien. Die Tagung wollte deshalb aus ideengeschichtlicher, sozialtheoretischer und zeitdiagnostischer Perspektive ausloten, ob Politik nicht doch ein wenig mehr Leidenschaft vertragen könnte, als es die pragmatische Physikerin aus der Uckermark gemeinhin für wünschenswert hält. (mehr …)

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Wiedergelesen: Mill: Betrachtungen über die Repräsentativregierung

Wiedergelesen-Beitrag zu John Stuart Mill: Betrachtungen über die Repräsentativregierung, Hubertus Buchstein und Sandra Seubert (Hg.), Hannelore Irle-Dietrich (Übers.), Berlin: Suhrkamp, 2013, 336 Seiten.

Wenn in funktional differenzierten, hyperkomplexen Gesellschaften alles immer schneller entschieden werden muss, wenn folglich über das, was entschieden wird, nicht lange öffentlich räsoniert werden kann, hat die repräsentative Demokratie allem Anschein nach ein empirisches Problem. Nicht zuletzt deshalb konnte Carl Schmitt den Parlamentarismus als Idealzustand rationaler öffentlicher Diskussion bereits in den 1920er Jahren genüsslich auf dem Friedhof der Geistesgeschichte begraben. Heutzutage fallen Diagnosen, die sich auf die mangelnde Praktikabilität der Repräsentativregierung beziehen, nicht viel optimistischer aus. Hinzu kommt, dass die repräsentative Demokratie ein ernstes normatives Problem hat, weil ihr ideengeschichtliches Äquivalent, der Liberalismus, aufgrund der Krisenanfälligkeit seines vorgeblichen Zwillingsbruders, des Kapitalismus, als ideologisches Flaggschiff der „vested interests“ desavouiert scheint. Wird der Liberalismus aber zunehmend in der Flügelzange von postmoderner Sozialwissenschaft und neomarxistischer Kritik aufgerieben, stellt sich die Frage nach dem Sinn einer erneuten Lektüre seiner Klassiker. Provokativ gefragt: Darf sich denn allenfalls der nimmermüde Archivar über eine Wiederauflage der Betrachtungen über die Repräsentativregierung (1861) im Berliner Suhrkamp-Verlag freuen? Statt John Stuart Mills (1806-1873) politiktheoretisches Hauptwerk derart unter Wert zu verkaufen, soll es im Folgenden anhand dreier Merkmale mit Aktualitätsbezug analysiert werden. (mehr …)

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