Das kosmopolitische Europa wartet. Lesenotiz zu Dieter Gosewinkels „Schutz und Freiheit?“ (Suhrkamp 2016).

Dieter Gosewinkel: Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin: Suhrkamp 2016.

 

Buch der Stunde?

„Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert“ ist ein präziser Untertitel für ein Werk, dessen Haupttitel etwas ratlos machen mag. Denn unter einem mit Fragezeichen versehenen Titel wie Schutz und Freiheit? das Konzept der Staatsbürgerschaft zu erörtern, wird erst verständlich, wenn man die Ausgangsthese des Berliner Historikers Dieter Gosewinkel teilt, dass es diese zwei Begriffe mit ideenhistorisch spannungsreicher Vorgeschichte waren, auf deren Verschmelzung mittels Staatsbürgerschaftskonzept zu Beginn des europäischen 20. Jahrhunderts allgemein gehofft wurde.

Die Staatsangehörigkeitsidee kann den legitimen Anspruch auf Schutz und Freiheit auf die formal verbindliche Mitgliedschaft in der Gemeinschaft der Staatsbürger begrenzen. Schlagartig ist damit der politische Charakter der Staatsbürgerschaft klar. Wer gehört dazu? Wer soll dazugehören und wer nicht? Im 19. Jahrhundert war etwa Karl Marx die preußische Staatsangehörigkeit entzogen und die britische verweigert worden – Marx starb als Staatenloser. Auch im Europa der Gegenwart ist die populistische Idee der Aberkennung von Staatsbürgerschaft längst auf die politische Bühne zurückgekehrt. Hannah Arendts Wir Flüchtlinge von 1943 ist brandaktuell neu aufgelegt worden. Vollends gegenwärtig auch wird das Thema, denkt man an asylpolitische Privilegien, die einem syrischen Pass zugeschrieben werden, respektive an die Motive Flüchtender, ihre Dokumente zu zerstören. Auch insofern ist Gosewinkels Werk schon als das Buch der Stunde verstanden worden. Doch ist es auch so gemeint?

 

Staatsbürgerschaftskonzept als „Sonde historischer Gesellschaftsanalyse“

Gosewinkel, der mit seiner vielbeachteten Habilitation Einbürgern und Ausschließen über die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit hervortrat, beherrscht alle Dimensionen und Facetten seines schier unermesslichen Problemfelds virtuos. In insgesamt sechs Großkapiteln schreitet er das Thema ab. Von den imperialistischen Staatsbürgerschaftsverständnissen der Jahrhundertwende über deren nationalstaatliche Strukturierung im Ersten Weltkrieg, ihre Ethnisierung in der Zwischenkriegszeit, ihre rassistische Implosion in der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, ihre innenpolitische Politisierung im Kolonialismus, ihre Liberalisierung im zweifelhaft postnationalen Nachkriegseuropa und ihre transnationale Europäisierung in der jüngeren Vergangenheit verhandelt er die Materialfülle, die ihm seine sechs ausgesuchten Fälle in ihren wechselhaften Regimevarianten seit 1900 bieten: Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Tschechoslowakei, Polen und Russland.

Das Konzept der Staatsbürgerschaft dient dabei als „Sonde historischer Gesellschaftsanalyse“, als ein „Leitfaden“, der durch teils starke Thesen führen soll, etwa die, dass die verbreitete Unterscheidung zwischen dem territorialen, tendenziell assimilationsfreundlichen Staatsbürgerschaftskonzept und dem eher ethnisch-kulturell konnotierten Exklusionsmodell nicht hilfreich sei. Großer Stellenwert gebührt überdies Gosewinkels  irritierender Darlegung, nach der kein West-Ost-Gefälle zwischen einem staatsbürgerschaftlich offenen West- und einem eher intoleranten Osteuropa besteht.

Bei all dem tauge, konstatiert Gosewinkel überraschend in nicht weiter geklärter Anspielung auf das Großlexikon Geschichtliche Grundbegriffe, Staatsbürgerschaft als ein immerhin „politisch-sozialer Grundbegriff der europäischen Moderne“ letztlich nicht. Wer hätte das je behauptet? Gosewinkel selbst nicht; auch nicht seine im voluminösen Buchauftakt gleich mehrfach aufgebotenen Einleitungsfragmente. Diese für den Band vom Titel bis zum Schluss also offenbar durchgehende Ziellosigkeit der anspielungsreichen Argumentationsteile mag vielleicht daran liegen, dass Gosewinkel dem Thema aus mal abstrakter und mal fallstudienhaft konkreter Anschauung mit sterilen Begriffen begegnet und die Bedeutung der Ideengeschichte für sein durchweg politisches Thema nicht zu hoch veranschlagt. Die gut sechshundert eng bedruckten Taschenbuchseiten destillieren Ergebnisse von etwa fünfzehnhundert Forschungsarbeiten – Sekundärliteratur zumeist, bevorzugt auch Administrationsentscheidungen und Verwaltungsdokumente, seltsamerweise fast ohne Darstellung der jeweiligen Rechtstexte und -formulierungen. Das Thema wird so auf oft recht großer Distanz gehalten, auch ausdrucksstarke Bilder werden gemieden.

Tatsächlich kennzeichnen ungezählte affektive Momente, riesige Komplexe nationaler, religiöser und territorialer Einigung, Umsiedlung oder Sezession, demographischer, wehr- und wahlrechtpolitischer Maßnahmen sowie Fiskal- bzw. Enteignungsinteressen die Unmengen offiziellen Staatsangehörigkeitspraktiken des 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Gosewinkel verzichtet sowohl auf geordnete Nennung wie auch auf ihre Typisierung. Zwar erfährt man, dass die Ethnisierung der Staatsbürgerschaft ausgerechnet nach Kriegsende 1945 einen Höhepunkt erreicht. Fortan prägten dann völker- und zunehmend menschenrechtliche Kodifizierungen die Entwicklung wenigstens Westeuropas. Und schließlich habe die Unionsbürgerschaft nationale Besonderheiten der EU-Staaten relativiert. Sie treibe die „Denationalisierung“ der Grund- und Menschenrechte, die „Depersonalisierung“ von Vorrechten sozialer Gruppen sowie die Romantisierung identitärer Staatszugehörigkeitsideen weiter voran.

 

Staatsbürgerschaft als „bestimmende Kategorie politischer Zugehörigkeit“

So bleibt etwas unverständlich, warum angesichts solcher Konzeptvielfalt im Einzelfall wie im Nationenvergleich die eher amorphe „Staatsbürgerschaft zur bestimmenden Kategorie politischer Zugehörigkeit“ aufgestiegen sein soll, wie am Beginn des Buchs behauptet wird. Gosewinkel selbst bestimmt die Kategorie nicht näher, sondern bleibt einer Darstellung ihrer enormen Vielfalt und ihres Wandels verpflichtet. Im „engeren Sinne“ verstanden wissen will er sie als ein Set „staatsbürgerschaftlicher Rechte“. Darein zählt er abstrakt zivile, politische und soziale Rechte. Konkret darunter fallen darf dann aber alles, was die jeweiligen Verfassungen und Gesetzgeber aufführen und ihre Rechtsentwicklung auftürmt, nicht nur Eigentumsgarantie, Wahlrecht oder Armenhilfe. Vor allem der Buchteil zur europäischen Integration kommt mit Passagen etwa über geschlechtsspezifische Benachteiligung an Arbeitsmärkten insofern konsequent als sozialgeschichtliche Darstellung daher. Inwieweit ist all dies noch als Konsequenz spezifisch staatsbürgerschaftspolitischer Erwägungen zu betrachten?

Auch Gosewinkel selbst artikuliert Skepsis. Angebracht ist sie etwa hinsichtlich der Spannungen zwischen den zumal in Osteuropa nach 1989 detailliert verbrieften Verfassungsnormen und der jeweiligen Verfassungsrealität. Die im heutigen Europa nicht selten willfährige verfassungsrechtliche Anpassung bzw. „Reform“ grundlegender Rechte an Regierungsinteressen lässt Zweifel aufkommen. Auch der Krieg um die Krim wird erwähnt. Ob die Leidensgeschichte politischer Konstitutionalisierungskämpfe, die Geschichte der Instrumentalisierung, Vortäuschung und des Bruchs vermeintlich unaufhebbarer Rechte endgültig vorbei ist, bleibt daher abzuwarten.

Andererseits bedingt auch der schrittweise Austausch vordem staatsbürgerschaftlicher Garantien durch menschen- und unionsbürgerliche Rechte sowie durch überhaupt transnationale Arrangements im Falle von Frauen, Minderheiten und Geflüchteten, dass Staat und Bürger auf die dem Konzept der Staatsbürgerschaft nachgesagte Machtressource als fundamentales Ermächtigungs- wie Repressionsmittel mittlerweile weitgehend verzichten.

 

„Historisierung“ von Staatsbürgerschaft

So sei es Zeit, Staatsbürgerschaft als „normatives Ideal“ zu „historisieren“. Dies gilt umso mehr, wie das, was Gosewinkel zu Staatsbürgerschaft zählt, bis weit ins letzte Jahrhundert hinein keinesfalls auf nationalstaatliche Praktiken territorialer Definition, kollektiver Identitätsstiftung und außenpolitischen Prestiges begrenzt war. Als Mittel umfassender Gesellschaftssteuerung bewirkte ein hierarchienreiches Instrumentarium, dass der individuelle Staatsbürgerschaftsstatus soziale Konventionen, politische Pflichten und bürgerliche Rechte gezielt zuteilte, Lebenschancen personalisierte, stereotypisierte und festschrieb. Die Unmenge diskriminierender Sonderbedingungen, denen sich Juden und die so klassifizierten Bürger ausgesetzt sahen, ist das bekannteste Beispiel.

Gosewinkel benennt aber auch die verdrängte Geschichte der Frauen, deren Staatsbürgerschaftsrechte über diejenigen des Ehemannes definiert waren. Spätestens dabei hätte eine deutlichere Verbindung zur Flüchtlingsfrage auf der Hand gelegen, der Status unbegleiteter Minderjähriger etwa. Vom Familiennachzug bis zum Vormundschaftsrecht kreisen immerhin viele derzeitige Ängste und Chancen um die Frage der staatsbürgerschaftlichen Konsequenzen von Verwandtschaftsverhältnissen Geflüchteter. Was kann vor dem Hintergrund dieser Aktualität die Forderung der „Historisierung“ bedeuten – einmal mehr bleibt nur die Flucht in die Spekulation.

 

Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft

Von den trotz großer Fallzahl wenigen theoretischen Unterscheidungen, die das Buch anbietet, bleibt daher diejenige zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft wohl die grundlegendste. Sie ermöglicht, Ambivalenzen der Zugehörigkeit im Konzept der Staatsbürgerschaft auszubuchstabieren und eine Abstufung zwischen Diskriminierung und Emanzipation vorzunehmen. Liberale Gesellschaften beginnen, wo Vollbürgerschaft kein Privileg ist, sondern ein Grundrecht, das von allzu starken Bekenntnissen ebenso Abstand hält wie von Substantialisierungen. Sind mehrere Staatsbürgerschaften zulässig, kann von einer tendenziell kosmopolitischen Gesellschaft ausgegangen werden. Die formelle Mitgliedschaft erzwingt dabei weder eindeutige Zugehörigkeit noch eine über Rechtstreue hinausgehende Loyalität. Gosewinkels Buch zeigt, dass diese Kontraste im heutigen Europa keinesfalls der Vergangenheit angehören. Womöglich haben sie auch Kosmopoliten nur an die europäischen Außengrenzen verlegt. Was das alles bedeuten könnte, ist dem Buch nicht zu entnehmen. Denken müssen wir selbst.

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