theorieblog.de | Andreas Cassees Plädoyer für globale Bewegungsfreiheit – Zugang zu Institutionen oder zu Territorien?

25. Januar 2017, Schlegel

cassee_bewegungsfreiheit_coverAndreas Cassees „Globale Bewegungsfreiheit“ ist zwar, wie es im Untertitel heißt, ein Plädoyer für offene Grenzen, das von einer Grundsympathie für Migrierende getragen ist. Dennoch funktioniert es auf Grund seines sehr klaren Aufbaus und der einfachen, zugänglichen Sprache auch als eine ausgezeichnete Einführung in die Migrationsethik. Das Buch ist eine tour de force, die alle wichtigen Positionen in der englischsprachigen und in der deutschen Literatur zur Frage eines Rechts auf globale Bewegungsfreiheit in überschaubarem Umfang zusammenfasst, in eine Beziehung zueinander stellt und kritisch bespricht.

Die Struktur des Buches ist unkonventionell. Cassee formuliert nicht zu Beginn seine eigene Position und verteidigt diese dann gegen alle Einwände. Er beginnt mit der Beschreibung einer Standardposition, nach welcher Staaten grundsätzlich berechtigt sind, Zuwanderung abzuwehren. Diese nimmt er dann auseinander und errichtet auf ihren Ruinen seine eigene Position für ein grundsätzliches Recht auf globale Bewegungsfreiheit. Das hat für die Leser den Vorteil, dass sie alle positiven Forderungen des Plädoyers an allen wichtigen Gegenargumenten testen können, ehe der Autor selber es tut. Für Andreas Cassee hat es den Vorteil, dass er bis ganz zum Schluss agnostisch bleiben kann zur Frage, warum es globale Bewegungsfreiheit geben sollte, und sich darauf beschränken kann, die Standardposition aus recht neutraler Warte zu kritisieren. Erst im letzten Kapitel verlässt er die Deckung und legt sich auf eine kosmopolitische Version von Rawlsʼ Vertragstheorie fest, um seine Position zu begründen.

Zu der von ihm als solche beschriebenen Standardposition gelangen gemäß Cassee drei verschiedene Gruppen von Autoren: Kommunitaristen (insbes. Michael Walzer), liberale Nationalisten (insbes. David Miller und Will Kymlicka), und Autoren, die kulturalistische Argumente gegen ein Recht auf Migration mit institutionellen Argumenten austauschen (insbes. Christopher Wellmann und Ryan Pevnick). Es ist die Einordnung und Kritik dieser institutionell orientierten Argumente – sie sind jünger als kommunitaristische und nationalistische Argumente –, um die sich Cassee besonders verdient macht. Beiden Hauptvertretern, Wellmann und Pevnick, weist Cassee überzeugend nach, dass sie die kommunitaristischen Annahmen, die von der Natürlichkeit und moralischen Richtigkeit von Gruppenzugehörigkeit durch Herkunft ausgehen, nach wie vor benötigen, damit ihre Argumentation funktioniert. Dabei wollten sie diese gerade überwinden.

 

Und ewig lockt die Metapher der großen Familie

Wellmann stellt der Analogie der Familie für Nationen, wie sie unter Kommunitaristen verbreitet ist, die Analogie des Vereins gegenüber. Er argumentiert, das Recht auf Ausschluss ergebe sich bei Staaten wie bei Vereinen aus der Vereinigungsfreiheit. Cassee zeigt zunächst, dass die Vereinigungsfreiheit die Frage der Aufnahme von neuen Mitgliedern noch nicht moralfrei macht und dass die Analogie von Staaten mit Clubs aus einer Reihe von Gründen nicht überzeugend ist. Vor allem aber weist er Wellmann eine implizit kulturalistische Tönung nach. Sein Argument baut nämlich auf der Annahme auf, der öffentliche Raum sei ein „privater Raum zweiter Ordnung“, für den wir festlegen wollen, wem wir begegnen und wem nicht und insofern ein intimer Raum, den wir nur mit unseresgleichen zu teilen bereit sein dürfen (S. 68 f.).

Ryan Pevnick ersetzt das Argument für nationale Selbstbestimmung durch ein Argument für staatliche Selbstbestimmung, indem er das Recht auf Ausschluss mit einem kollektiven Eigentumsrecht am Staat begründet. Aber damit die Übertragung dieses kollektiven Eigentums von einer Generation auf die nächste, also auf Neuankömmlinge durch Geburt (aber nicht auf Neuankömmlinge durch Zuwanderung) funktioniert, ist wiederum die Fiktion von Staaten als großen Familien unentbehrlich und damit die Idee einer natürlichen Zusammengehörigkeit durch Geburt.

Cassees Buch hat seine größten Stärken in solchen Momenten, wenn er Widersprüche oder Inkohärenzen offenlegt und damit Argumente gegen das Recht auf Zuwanderung nur durch Deduktion zerlegt, ohne dass er der Gerechtigkeitsintuition der Autoren, die er kritisiert, eine eigene entgegen stellen muss.

 

Was innerhalb des Staates gilt, muss zwischen Staaten gelten

In der Kritik kultureller Argumente zeigt er etwa, dass deren Vertreter gleichzeitig auf zwei Annahmen angewiesen sind, die kaum miteinander vereinbar sind. Einerseits, dass kulturelle Verwurzelung essentiell sei für menschliches Wohlbefinden und deren Verlust eine menschliche Tragödie. Andererseits aber, dass die meisten Menschen ihr kulturelles Umfeld hinter sich lassen und für einen marginalen Einkommensvorteil migrieren würden, wenn man sie nicht davon abhielte (S. 123).

Will Kymlicka weist Cassee nach, dass er von einer schwachen zu einer starken Konzeption kultureller Homogenität wechseln muss, um das staatliche Recht auf Migrationsabwehr verteidigen zu können. Während die schwache Konzeption nur davon ausgeht, kulturelle Kontinuität sei essentiell für menschliches Wohlbefinden, wechselt Kymlicka implizit zur stärkeren Konzeption, die davon ausgeht, die Grenzen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Kulturen müssten aufrechterhalten werden. Im Unterschied zur schwächeren Konzeption orientiert sich diese stärkere Konzeption aber nicht mehr am Wohlbefinden des Individuums, sondern an den Vorlieben des Kollektivs. Damit kollabiert die behauptete Vereinbarkeit von individueller Autonomie und dem Postulat des Erhalts nationaler Kulturen, die Kymlickas Argument erst attraktiv gemacht hat (S. 155).

Am Ende sind alle wichtigen Argumente zur Verteidigung der Standardposition der Inkohärenz überführt. Seine eigene Position für eine globale Bewegungsfreiheit baut Cassee dann auf einer Analogie zwischen dem innerstaatlichen und dem internationalen Recht auf Niederlassungsfreiheit auf. Die überzeugendste Begründung für das Recht auf eine innerstaatliche Niederlassungsfreiheit sei die Ermöglichung individueller Autonomie und nicht etwa der Schutz vor politischer Unterdrückung (wie Adam Hosein argumentiert) oder ein angemessenes Angebot an Optionen (wie David Miller argumentiert). Diese Begründung treffe aber auf zwischenstaatliche Bewegungsfreiheit (im Gegensatz zu den alternativen Begründungen, die er verwirft) genauso zu, wie für die innerstaatliche. Dass die analoge Handhabung beider Fälle gerecht wäre, begründet Cassee mit einer kosmopolitischen Version von Rawls’ Gesellschaftsvertrag. Fragen, die Auswirkung (jedenfalls Zwangswirkung) über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus haben, müssen auch von einer internationalen Gemeinschaft entschieden werden können, wenn sie gerecht entschieden werden sollen. Es ist daher nicht die Gemeinschaft der Staaten, sondern die globale Gemeinschaft der Individuen, die sich hinter dem Schleier des Nichtwissens zu der Frage äussern muss, ob innerstaatliche und zwischenstaatliche Bewegungsfreiheit analog behandelt werden sollen (S. 251). Und diese vertragsschließende Versammlung würde sich auf globale Bewegungsfreiheit als default-Regel festlegen. Als zu wichtig könnte sich für Individuen die Möglichkeit zur Migration erweisen, wenn der Schleier einmal gelüftet ist, als dass sie darauf verzichten könnten.

 

Wie die Suppenküche, wie der Yoga-Kurs oder wie der Studierendenverein?

„Warum gibt’s in der Schweiz so viele Berge?“ – „Weil die alten Eidgenossen so viele Ländereien erobert haben, dass sie gestapelt werden mussten.“ Dieser Witz, harmlos wie er ist, führt zu einem Kernproblem, mit dem sich das Buch beschäftigt und das Cassee nur teilweise in den Griff bekommt. Die Klärung der Frage, zu welchem Gut Migration denn nun Zugang verleiht und ob dieses von der Vorleistung der bereits Anwesenden oder deren Vorfahren abhängt (ob sie die Berge – wenn es denn die Berge sind, nach denen Zuwanderer sich sehnen – selbst aufgeschichtet haben). Gibt Migration Zugang zu einem Territorium? Zu einem Setting von Institutionen? Oder unentwirrbar zu beidem? Eine Frage ist diesem zentralen Problem vorgelagert, eine nachgelagert. Die vorgelagerte Frage ist, ob und wie Staaten „Eigentum“ über ihr Territorium haben oder erwerben konnten. Das nachgelagerte Problem ist, von welchen Gütern, insbesondere auch von welchen Zugangsmöglichkeiten zu Institutionen, Zuwanderer ausgeschlossen werden können, wenn sie sich einmal auf dem Territorium befinden und inwiefern diese Güter rival sind, die Nutzung durch andere also die Nutzung durch mich beeinträchtigt (sodass an einem Ausschluss von Neuankömmlingen überhaupt ein Interesse besteht). Was immer also das Gut oder die Güter sind, die durch Zuwanderung erlangt werden, sie müssen unter dem Gesichtspunkt der Rivalität und der Ausschließbarkeit charakterisiert werden, um sauber argumentieren zu können. Das Problem dabei ist, dass Territorium typischerweise rival und ausschließbar ist und Institutionen (politische Institutionen, Justizwesen, Märkte usw.) typischerweise nicht.

Wo institutionelle Überlegungen und nicht der Erhalt einer spezifischen Kultur die zentralen Argumente gegen ein Recht auf Bewegungsfreiheit bilden, geht es im Kern um die Frage, inwiefern Zugang zum institutionellen Gefüge eines Staates Zugang zu dessen Territorium voraussetzt und inwiefern der Zugang zum Territorium den Zugang zum institutionellen Gefüge zwingend nach sich zieht.

Cassee entwickelt für dieses Problem eine Reihe von nützlichen Analogien: Darf ein Quartierverein, der im Park gratis Suppe ausgibt, Armen aus anderen Stadtteilen den Zugang zum Park verbieten, weil er diesen keine Suppe ausgeben möchte? (S. 82) Das Gut in dieser Analogie (die Suppe) ist zwar rival aber ich kann von ihrer Nutzung selbst dann noch ausgeschlossen werden, wenn ich mich auf dem Territorium des Parks befinde. Darf ein Yoga-Verein, der im Park seine Yoga-Stunden durchführt, Nichtmitglieder aus dem Park ausschließen, wenn er anders nicht verhindern kann, dass Nichtmitglieder die Yoga-Übungen einfach mitmachen? (S. 54, die Analogie stammt ursprünglich von Sarah Fine). Hier nun ist das Gut (Yoga-Unterricht) nicht oder kaum rival (ich kann die Yoga-Übungen weiterhin mitmachen, auch wenn andere heimlich teilnehmen), aber nicht ausschließbar sobald Zugang zum Territorium besteht. Darf ich andere von der Nutzung eines Kuchens (ausschließbar und rival), der uns ursprünglich gemeinsam gehört hat, ausschließen, wenn ich diesen mit Schlagsahne (ebenfalls ausschließbar und rival) verfeinert habe? Und wenn der Wert der Sahne den Wert des Kuchens übersteigt? (S. 83) Sind Staaten wie der Studierendenverein an einer bestimmten Universität, der alle beitrittswilligen Studierenden aufnehmen muss, weil er gegenüber der Universität gewisse Privilegien (ausschließbar, aber nicht rival) hat?

Trotz all dieser Analogien bleibt die Beziehung von Territorien und Institutionen verschwommen und daher auch ungeklärt, zu welchen Gütern Migration nun Zugang gibt. Das ist schade; denn beispielsweise Pevnick ließe sich noch viel stärker bedrängen – etwa, wo er Zuwanderung mit dem Teilenmüssen einer Ferienwohnung vergleicht (S. 73) – wenn man ihm nachwiese, dass es ihm eben nicht ernsthaft um das Territorium, sondern nur um den Zugang zu Institutionen gehen kann. Da deren Nutzung durch neu Hinzugekommene die Nutzung durch die bereits Anwesenden nicht oder kaum beeinträchtigt, lässt sich schon aus einer Analogie zum Eigentumsrecht kein Argument für ein grundsätzliches Recht auf Migrationsabwehr gewinnen. Cassee streift dieses Problem (S. 85 f.), bekommt es aber nicht recht zu fassen, weil er keine Auslegeordnung macht, zu welchen Gütern Migration Zugang gibt, und diese unter dem Gesichtspunkt der Ausschließbarkeit und der Rivalität charakterisiert.

 

Von der Scholle ist kein Loskommen

Auch Miller und Rawls hätte Cassee mit einer Unterscheidung von Territorien und Institutionen noch überzeugender demontieren können, wenn diese Autoren argumentieren, ein Recht auf Ausschluss sei notwendig, um den bereits Anwesenden nicht den Anreiz zu nehmen, das Erreichte zu pflegen. Miller hat Angst, dass Staaten im Falle globaler Bewegungsfreiheit ihren Bevölkerungsüberschuss einfach exportieren könnten. Rawls spricht sogar explizit die Befürchtung aus, im Fall von globaler Bewegungsfreiheit würden die jeweiligen Bevölkerungen das Territorium, das sie kollektiv besitzen, „verkommen“ lassen. Dem könnte entgegengehalten werden, dass es sowohl im Herkunftsstaat gut funktionierende Institutionen sind, die entscheidend dafür sind, ob Lebensqualität auch bei wachsender Bevölkerung möglich ist und im Zielstaat gut funktionierende Institutionen (nicht das Territorium), an welchen Zuwanderer in aller Regel ein Interesse haben. So würde klar, dass Gesellschaften auch unter der Bedingung freier Migration noch einen Anreiz hätten, in die Qualität des Gemeinsamen, in gut funktionierende staatliche Institutionen zu investieren. Stattdessen übernimmt Cassee hier jedenfalls implizit das an die Scholle geheftete Denken. Er stellt lediglich in Frage, ob diejenigen, die ein Land „heruntergewirtschaftet“ hätten, je unter ihren Fehlleistungen gelitten oder nicht stets eine Destination zur Auswanderung gefunden hätten. An ihrer Stelle seien es stets die politisch und wirtschaftlich Machtlosen gewesen, welche die Zeche zu zahlen hatten (S. 139 f.). Nehmen die Wendungen „herunterwirtschaften“ und „verkommen lassen“ eher Anklang an dem Vergleich eines Staates mit einem Stück Land oder mit einem Betrieb oder mit einem Betrieb, der Land bewirtschaftet? Es wird nicht ganz klar.

Diese verbleibende Unklarheit beeinträchtigt dann auch die Darstellung von Migration als Verteilungsfrage im weiteren Sinne (S. 254), zu der ein kontraktualistischer Zugang notwendigerweise führt. Verteilt der Gesellschaftsvertrag Zugang zu individuellen Freiheiten, wie sie durch ein gut funktionierendes institutionelles Gefüge bereitgestellt werden können oder geht es um die Verteilung von Territorien der Erdoberfläche und Zugangsrechten zu diesen? Michael Blake und Mathias Risse scheinen letzterer Ansicht zu folgen, wenn sie argumentieren, dünn besiedelte Staaten hätten eine Pflicht, Menschen aus dicht besiedelten Staaten einwandern zu lassen. Cassee empfindet diese Auffassung als verkürzt, stellt ihr aber die Frage der Verteilung von Zugangsrechten zu Institutionen nicht hinreichend klar gegenüber (und weist zu wenig klar auf die untergeordnete Bedeutung von Territorien im Verhältnis zu Institutionen hin). So bleibt unklar, was in seinem kosmopolitischen Gesellschaftsvertrag genau verteilt wird, wenn hinter dem Schleier des Nichtwissens die Frage nach dem Recht auf globale Bewegungsfreiheit aufgeworfen wird.

Ein zentrales Problem, das Argumente wie jene von Wellman und Pevnick für die Debatte über ein Recht auf Zuwanderung offengelegt haben, bleibt mit dem Beitrag von Andreas Cassee damit ungelöst. Aber er hat die Ausgangslage, an der Lösung dieses Problems zu arbeiten, mit seinem stringenten Plädoyer entschieden verbessert.

 

Stefan Schlegel ist Jurist. Er hat in Bern zur Ökonomischen Analyse des Rechts im Migrationsrecht doktoriert und arbeitet als Post-Doc am Max-Planck-Institut zur Erforschung multiethnischer und multireligiöser Gesellschaften in Göttingen.


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