theorieblog.de | Brexit und europäischer Populismus: Ein Kommentar aus dem Vereinigten Königreich

15. Juli 2016, Fusco

Das britische Votum, die Europäische Union zu verlassen, ist der jüngste Erfolg populistischer Politik in Europa. Populismus ist dabei keine neue Politikform, doch hat er sich seit der Finanzkrise von 2008 als Mainstream-Phänomen etabliert. PopulistInnen verstehen sich als VerteidigerInnen ‚des Volkes‘ gegen diejenigen, die sie als ‚das Establishment‘ oder ‚die Eliten‘ betrachten. Jede populistische Bewegung hat den Anspruch, das ‚wahre‘ oder ‚authentische‘ Interesse des Volkes gegen die Macht der Eliten zu verteidigen – gegen ‚Berufspolitiker‘, ‚gierige Banker‘, ‚großstädtische Snobs und Intellektuelle‘, ‚die Lügenpresse‘ oder ‚gesichtslose Bürokraten‘.

Vor dem Hintergrund der britischen Erfahrung des EU-Referendums möchte ich den VerteidigerInnen des europäischen Projekts einige Gedanken mit auf den Weg geben, wie eine Antwort auf EU-kritischen Populismus, der nach dem Brexit an Fahrt aufnehmen könnte, aussehen sollte. Anlass dazu ist die unangemessene Antwort, die die etablierte Politik im Rahmen des britischen Referendums auf ihn gegeben hat. Ich möchte zeigen, dass DemokratInnen die populistische Kritik an bestehenden Eliten und Machtkonzentrationen ernst nehmen sollten, auch wenn der Populismus ohne Zweifel besorgniserregende Formen annimmt. Kurz: Wenn PopulistInnen vom ‚Establishment‘ sprechen, bilden sie sich dieses nicht einfach ein. Zwar gibt es keine Demokratieform, die ohne hierarchische Elemente auskommt, doch diejenigen, die das europäische Projekt verteidigen wollen, müssen anerkennen, dass einige der Eliten, die von den PopulistInnen kritisiert werden, tatsächlich bestehende demokratische Prozesse unterminieren. Populismus erhält dort Kraft, wo die Erfahrung der Ohnmacht vorherrscht.

Die von PopulistInnen kritisierten Eliten bilden oft keine spezifischen Gruppen. Vielmehr müssen Populisten meist, um erfolgreich zu sein, ein tieferliegendes Gefühl der Unzufriedenheit ansprechen, das die Individuen mit ihren Lebensumständen verbinden. Dem zugrunde liegen reale Missstände, die oft elitären und nicht legitimierten Machtkonzentrationen zugeschrieben werden können und die unabhängig davon bestehen, ob sie von PopulistInnen und ihren Unterstützern in angemessener und verantwortlicher Weise dargestellt werden. Beispiele sind Arbeitslosigkeit und die Einschränkung öffentlicher Dienste, für die anstelle der zugrundeliegenden politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen vor allem Immigration verantwortlich gemacht wird. Ich wende mich im Folgenden zunächst an diejenigen, die bei den Analysen des EU-Referendums eine anti-populistische Sprache nutzen, die jedoch selbst oft elitär ist. Dann schlage ich einige mittelfristige Reformen der EU-Institutionen vor, die die derzeitigen Argumente EU-kritischer Populisten zumindest in Teilen entschärfen könnten, bevor diese auch außerhalb des Vereinigten Königreichs weitere Erfolge feiern.

Den Kern populistischen Denkens bildet die Überzeugung, dass Eliten die Interessen des Volkes nicht angemessen repräsentieren. KritikerInnen des Populismus argumentieren zurecht, dass mit diesem Gedanken potentiell Gefahren verbunden sind, weil Populismus sich gegen Pluralismus richtet. Ihm liegt eine homogene Vorstellung davon zugrunde, was die Interessen des Volkes sind. Dies ist undemokratisch, wenn mit populistischen Mitteln Gruppen als nicht zum Volk gehörig delegitimiert und in extremen Fällen ihrer Rechte beraubt werden. Populismus selbst kann allen BürgerInnen den gleichen Respekt und die gleiche Anerkennung verwehren, die ihnen entsprechend der Idee der liberalen Demokratie zustehen.

Allerdings haben die Antworten der etablierten Politik auf den Populismus selbst oft anti-pluralistischen Charakter. Viele Antworten zeugen von elitärem Denken. KritikerInnen machen sich Sorgen, dass BürgerInnen ‚falsch‘ entscheiden. Die Ansichten einiger BürgerInnen werden so verworfen: Wenn sie ausreichend Informationen gehabt hätten und die Komplexität der verhandelten Fragen tatsächlich verstehen würden, hätten sie zum Beispiel nicht für den Brexit gestimmt. Die Ansichten bestimmter Bürger gelten als unvernünftig – und zumindest einige der Überzeugungen, die die Pluralität bestehender Sichtweisen ausmachen, werden abgelehnt. Denjenigen BürgerInnen, deren Ansichten sie unberücksichtigt lassen, verwehren die PopulismuskritikerInnen ihrerseits den Respekt und die Anerkennung, die ihnen zustehen.

Dies ist aus zwei Gründen problematisch. Erstens stellt es keine überzeugende Strategie dar, um den Populismus zu schwächen. Meist befeuert es ihn stattdessen. Zweitens begründet dies grundsätzliche Bedenken: Die Macht von Eliten ohne politisches Mandat, die den demokratischen Prozess verzerren oder unterhöhlen, entzieht sich der Diskussion. Wenn man in klassischer und frühneuzeitlicher Tradition Demokratie als Gegensatz zu aristokratischer und monarchischer Herrschaft versteht, geht es dabei um die BürgerInnen, die als politischer Macht Unterworfene an der Regierung teilhaben und Macht über sich selbst ausüben. Herrschaft ist folglich nicht demokratisch, wenn sie auferlegt oder von einer ungewählten Elite unangemessen beeinflusst wird. Dies ist gerade im Kontext europäischer Politik ein begründetes und berechtigtes Anliegen. Aus strategischen wie normativen Gründen muss deshalb jede erfolgreiche Antwort auf populistische Bewegungen selbst eine Kritik an denjenigen Eliten beinhalten, die den demokratischen Prozess stören und verzerren. Dies gilt besonders in strategischer Absicht, insofern es den BürgerInnen zeigt, dass elitäre Machtkonzentrationen problematisiert werden, und es damit dem Populismus erschwert wird, die VerteidigerInnen der EU ihrerseits als eine solche Elite darzustellen.

Im Vereinigten Königreich geriet die Kritik an der EU als Folge der Finanzkrise in den Fokus populistischer Politik. Populistische EU-GegnerInn haben mit Erfolg die Botschaft transportiert, dass die EU von einer ‚gesichtslosen und ungewählten Elite‘ regiert werde. Die EU nötige den Menschen Europas Gesetze auf, ohne dass diese Einfluss- oder Einspruchsmöglichkeiten hätten. Diese Botschaft war erfolgreich, weil das leere Versprechen, den Eliten Macht zu nehmen und diese ‚dem Volk‘ zurückzugeben, in Krisenzeiten als einziger Ausweg aus der wahrgenommenen Ohnmacht der Individuen schien.

Als das Referendum angesetzt wurde, war die Grundlage für den Sieg der Brexit-BefürworterInnen somit bereits gelegt. Für die ‚Leave‘-Kampagne bildete die ‚undemokratische und bürokratische‘ EU die Elite, die es zu stürzen galt. Die ‚Remain‘-Kampagne hingegen scheiterte nicht allein daran, die innenpolitischen und globalen Machtformen, die die europäische Demokratie entstellen und das Leben der Menschen beeinflussen, überzeugend zu kritisieren, sondern oft überhaupt Kritik zu üben. Es wurde während der Kampagne deutlich, wie wenig es in den Debatten eigentlich um die EU ging – warum sie existiert, wie sie funktioniert, wofür sie gut ist und warum sie dazu geeignet sein könnte, zukünftigen Herausforderungen zu begegnen. Stattdessen war das Referendum eine Abstimmung darüber, wie zufrieden die Menschen mit dem Status Quo sind.

Im Kern blieb von der ‚Remain‘-Kampagne die Botschaft hängen, dass die WählerInnen ihre gegenwärtige Situation tolerieren sollten. Die Art, wie die EU-BefürworterInnen Wahlkampf führten, zeigt wie dramatisch sie die gegenwärtige Unzufriedenheit vieler Menschen, geschweige denn die Unzumutbarkeit des Status Quo für sie unterschätzten. Dies sollte mit Blick auf die Zukunft der EU eine Warnung sein.

Wie sollte die EU nun reagieren? Dazu müssen, wie ich meine, zwei Fragen beantwortet werden: Warum und wozu besteht die EU? Und: Erfüllt die EU ihre Aufgaben derzeit?

Meine Antwort auf erstere Frage lautet: Um mit den Grenzen staatenbasierter Souveränität umgehen zu können. Die Frage der Souveränität stand im Zentrum der britischen Referendumsdebatten, nicht zuletzt weil die ‚Leave‘-Kampagne forderte, das Vereinigte Königreich solle ‚sich seine Souveränität zurückholen‘. Ihr Grundsatz lautete, dass die Letztentscheidungsbefugnis in Westminster dem UK die Kontrolle über alles erlaube, was ihn betreffe. Es wäre zwar falsch, zu glauben, dass das Verlassen der EU das Vereinigte Königreich allein dem Spiel des Schicksals überlasse. Versteht man, wie ich, Souveränität als Letztentscheidungsgewalt über Dinge, die ein politisches Kollektiv betreffen, folgt aus der stärkeren Machtkonzentration in Westminster jedoch paradoxerweise, dass der UK insgesamt weniger souverän ist.

In der Welt der Gegenwart sind Staaten, nicht zuletzt kleine Staaten, gegenüber den Kräfte des globalen Handels und der Finanzwirtschaft und einer Vielzahl anderer global wirksamer Kräfte nicht vollständig souverän. Die EU als Institution ist nur zu verteidigen, wenn sie ihre stattliche Schlagkraft einsetzt, um diese Machtformen und die Eliten, die von ihnen profitieren, einzudämmen, und deren schädlichen Folgen für die demokratische Bürgerschaft der EuropäerInnen entgegenwirkt.

Damit sind wir bei der zweiten Frage: Wird die EU ihrer Aufgabe gerecht? Kurz gesagt, ist die Antwort nein – oder zumindest nicht in ausreichender Weise. Anstatt Finanz- und Wirtschaftseliten zu beschränken, hat die EU deren Position meist, wie auch im Fall der TTIP-Verhandlungen, gestärkt.

Was ist nun zu tun? Meiner Ansicht nach muss die EU dem Rückfall in die eingefahrenen Muster der Elitenherrschaft widerstehen. Anstatt auf Orthodoxien zurückzugreifen und sich um die intellektuellen Fähigkeiten der DurchschnittsbürgerInnen – also derjenigen, die im UK für den Brexit gestimmt haben – zu sorgen, muss sie demokratische Mittel bereitstellen, mithilfe derer die BürgerInnen Europas Finanz- und Wirtschaftseliten entgegentreten können. Dies ist ein schwieriger Prozess, der grundlegende Fragen für die Eurozone und die Entscheidungsprozesse der EU aufwirft. Unter den gegenwärtigen Bedingungen, wenn nicht das Europäische Parlament, sondern die Staatschefs, der Europäische Rat und die Europäische Kommission diesen Prozess anleiten, ist der Erfolg eines solchen Schrittes fraglich.

Das Parlament muss in EU-Entscheidungen eine Vorrangstellung einnehmen, sodass in Situationen, wie der griechischen Schuldenkrise, in denen sich die EU selbst als Elite zeigt, den BürgerInnen Wege des demokratischen Widerstands offen stehen. Daraus folgen nicht notwendig andere Ergebnisse. Aber durch einen solchen Schritt werden Prozesse geschaffen, infolge derer die BürgerInnen akzeptieren können, dass sie unter fairen Bedingungen verloren haben. Die Vorrangstellung des Parlamentes würde verhindern, dass die Mehrheit der BürgerInnen überstimmt wird bzw. dass ihre repräsentativen Entscheidungen durch Interessen verfälscht werden, die nicht den demokratischen Sichtweisen der europäischen Bürgerschaft entspringen – wie auch immer diese diversen Sichtweisen aussehen.

PopulistInnen werden natürlich weiterhin gegen die Entscheidungen wettern, denen sie nicht zustimmen. Das Problem des Populismus ist durch einen solchen Schritt nicht komplett gelöst. Aber normativ wie strategisch ist dieser Schritt notwendig, um das europäische Projekt zu schützen. Wenn die BürgerInnen Europas um die Vorrangstellung des Parlamentes wissen und im Parlament eine breite Auswahl an Stimmen und Meinungen Ausdruck findet, sinkt die Gefahr, dass die EU von ihren populistischen EU-GegnerInnen karikiert wird. Wenn das Parlament die Entscheidungen trifft, die alle EU-BürgerInnen betreffen, und wenn es selbst und nicht die Kommission die Gesetze und Regelungen schafft, besteht die Möglichkeit, dass die Bürgerinnen sich diese Entscheidungen zu eigen machen, weil sie selbst die GesetzgeberInnen gewählt haben und nicht weiterhin das Gefühl haben, dass ihnen diese von indirekt gewählten oder ernannten Anderen aufgezwungen werden.

Und das Vereinigte Königreich? Das werden die nächsten Jahre zeigen. Der UK muss nicht als Ganzer die EU verlassen. Es ist, wie der Präzedenzfall Grönland zeigt, durchaus denkbar, dass Nordirland und vor allem Schottland, die für einen Verbleib in der EU gestimmt haben, ihre Mitgliedschaft erhalten. Das schottische Beispiel wiederum ist geeignet, eine positive Botschaft für Europa zu senden. Schottlands politische Führung hat ein Narrativ geschaffen, das den Status Quo herausfordert und die gegenwärtigen politischen und ökonomischen Eliten zu kontrollieren verspricht. Wenn sich PolitikerInnen in ganz Europa dieses Narrativ aneigneten, ist eine pro-europäische Alternative zum Populismus denkbar. Die EU-Mitgliedschaft könnte so als zentraler Baustein verstanden werden, um den Einfluss vieler Eliten zu überwinden, weil sie notwendig ist, um in Gegenwart und Zukunft souveräne demokratische Selbstbestimmung zu schaffen.

Es stimmt somit zwar, dass keine rein egalitäre Form der Demokratie existiert, weil jede Demokratie eine regierende Elite erfordert. Die repräsentative Demokratie kann die Herausforderung des Populismus annehmen, wenn sie die Machtformen als Problem anerkennt, die die Einflussmöglichkeiten der BürgerInnen und deren gleichberechtigte Berücksichtigung überlagern und verzerren. Die Herausforderung für TheoretikerInnen ist es deshalb, normative Standards zu entwickeln, welche Eliten und Machtformen demokratische Prozesse entstellen, und welche anerkennungswürdig oder gar notwendig sind, weil sie eine Form der Demokratie schaffen, die ihren BürgerInnen den gleichen Respekt und die gleiche Achtung entgegenbringt.

Übersetzt von Anna Meine

Dr. Adam Fusco lehrt Politische Theorie an den Universitäten Newcastle und York. An der Universität York hat er vor kurzem unter dem Titel „Freiheit und politischer Status: Eine republikanische Theorie und Kritik der Politik(en) der Selbst-Bestimmung“ seine Dissertation fertiggestellt. Seine Forschungsschwerpunkte sind Republikanismus, Theorien politischer Verpflichtung und Sezession. Als gebürtiger Belfaster und Nordire betrachtet er aus der Perspektive der Angewandten Politischen Theorie verfassungspolitische Fragen des UK, Schottlands, Nordirlands und der EU.

 

 


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