theorieblog.de | Geoffroy de Lagasneries kommender Aufstand. Zum Elend politik-philosophischer Deutungen des Digitalen

15. März 2016, Thiel

Geoffroy de Lagasnerie: Die Kunst der Revolte – Snowden, Assange, Manning. Berlin: Suhrkamp 2016.

Geoffroy de Lagasnerie - Kunst der Revolte, Suhrkamp 2016

Von Geoffroy de Lagasnerie, der sich anschickt, die große Tradition der öffentlichen Intellektuellen Frankreichs zu beerben, liegt mit Die Kunst der Revolte. Snowden, Assange, Manning seit Anfang Februar ein erster Essay in deutscher Übersetzung vor. Das bei Suhrkamp erschienene Bändchen spart nicht an Grandezza und formuliert plakativ als These, dass wir „gegenwärtig das Auftauchen von etwas Neuem“ (11) erleben. De Lagasnerie zeigt Mut zur zeitdiagnostischen Positionierung, möchte das Klein-Klein innertheoretischer Argumente beiseiteschieben und stattdessen eine Globalanalyse der Gegenwart, ihrer Widersprüche und vor allem ihrer Gegenkräfte liefern. Indem er sich dabei an die Front des Digitalen und Vernetzten begibt, betritt er ja tatsächlich gewissermaßen Neuland. Der Umstand, dass er die Tragweite des Vorhabens richtig einschätzt, besagt aber natürlich noch lange nicht, dass auch dessen begriffliche, theoretische und analytische Qualität überzeugt – und in allen drei Belangen bleibt die Kunst der Revolte doch erheblich hinter den geweckten Erwartungen zurück.

Zunächst aber zum Aufbau des dreigeteilten Buches: Im ersten Abschnitt liefert de Lagasnerie eine Bestandsaufnahme der politischen Entwicklung der Gegenwart, sodann folgt ein Zwischenspiel, das die „Herausforderung des Rechts“ durch digitale Dissidenz und die bisherigen theoretischen Antworten darauf diskutiert. Den Abschluss bildet ein nach vorne orientierter Teil, der die neuen politischen Subjekte sowie deren Wirkung auf die Struktur des Politischen untersucht, um in eine politische Theorie der Anonymität und der Flucht zu münden. In meiner Kritik möchte ich dieser Strukturierung folgen und an jedem der drei Teile des Buches je eine Dimension der Kritik – begrifflich, theoretisch, empirisch – exemplifizieren.

Los geht es mit einer Gegenwartsdiagnose, die kaum eine ist – und die vor allem begrifflich zu kurz greift: So setzt sich nur das erste von drei Unterkapiteln dieses Teils mit dem auseinander, was den Held_innen aus dem Titel – Edward Snowden, Julian Assange und Chelsea Manning – cum grano salis als Ausgangsmotivation ihres Handelns unterstellt werden kann: der Furcht vor der Entstehung eines Überwachungsstaats. De Lagasneries diesbezügliche Ausführungen kommen biederer daher als jeder durchschnittliche Feuilletonartikel, sind vor allem aber in ihrer Diktion unreflektiert liberal. So schreibt er über die Verletzungen der Privatsphäre und den im Gegensatz immer intransparenter werdenden Staat, der eine „spontane Neigung“ in sich trage, eine „nichtdemokratische, nichtöffentliche, weder kontrollierte noch kontrollierbare Sphäre einzurichten“ (30). Ein Big Brother also, der seinen Machtüberschuss aus – visuell gedachter – Überwachung schöpft und der ein demokratietheoretisches Problem ist, da er das Fundament der Gleichheit zerstört und das Verhältnis des Staates zu seinen Subjekten überformt. Die Diagnose mag ja nicht einmal falsch sein, aber sie könnte aus George Orwells Roman 1984 stammen (der schon 1949 erschien). Und seitdem hat sich viel getan und de Lagasnerie entwickelt gerade kein Gespür für die Besonderheiten digitaler Kommunikation, etwa den Unterschied von Surveillance und Dataveillance oder die Vermischung privater und staatlicher Strukturen.

Die Argumentation wird auch nicht dadurch solider – oder theoretisch tiefschürfender –, dass sich de Lagasnerie anschließend mittels einer Assoziation von Geheimnis und Ausnahmezustand auf weniger liberales, in der kritischen Theoriebildung dafür geläufigeres Terrain begibt. Wenn er nun mit Judith Butler und Giorgio Agamben den Ausnahmezustand, den Krieg gegen den Terror und die Auflösung des Rechts als übergeordnete Signaturen der Gegenwart dechiffriert, folgt man ihm zwar leichten Fußes, doch mit Digitalisierung und Vernetzung hat all das nur entfernt zu tun.

Im Ausgang von seiner Skizze des großen Ganzen wendet sich de Lagasnerie im zweiten Teil des Buches der Kritik dieser Entwicklung zu. Ihm zufolge ist nämlich alles, was bisher zu Snowden und Co. geschrieben wurde, zu wenig radikal und verkennt „die Möglichkeit einer Kritik des Rechts in seiner Positivität“ (56). Um diesem Argument zu folgen, muss man zunächst de Lagasneries These akzeptieren, die Forschungsliteratur sei auf den zivilen Ungehorsam fixiert (eine Rekonstruktion, die stark vereinfachend ist). Zudem muss man sich davon überzeugen lassen, dass der zivile Ungehorsam ein unrettbar liberales Konzept ist, das das Eigentliche des Rechts nicht in Frage stellt, sondern nur neue Verantwortung bei den Subjekten ablädt, da die dem Gesetz Unterworfenen in die Pflicht genommen werden, dem Gesetz immer wieder neue Impulse zu geben. Ziviler Ungehorsam sei nicht anders zu denken als ein öffentliches Einstehen für Prinzipien und daher zwangsläufig mit der Akzeptanz von Strafe verknüpft. Er fördere so den Pathos der Rechtstreue, den Glauben an den Souverän. Eine so einfache Kritik aber wird weder den differenzierten Debatten um zivilen Ungehorsam gerecht (vgl. etwa das von Robin Celikates geleitete Disobedience Project) noch trifft sie auch nur betulich-liberale Interpretationen von Whistleblowing und dem Handeln Edward Snowdens (etwa Bill Scheuermans Interpretation). Das Verprügeln von Strohmännern hat bisweilen seine Berechtigung, aber de Lagasneries Versuch, Defizite des vermeintlichen Mainstreams zu konstruieren, um seine eigene Radikalität zu betonen, ist zu einfach. Noch profitiert sein Ansatz davon, dass er die Kritik nonchalant auch auf Denker wie Agamben und Butler ausweitet, die in ihrer Kritik des Rechts über dessen exkludierende Wirkungen ebenfalls der Vorstellung eines potenziell guten Rechts verhaftet blieben.

Obschon die Diagnose im Herzen liberal und die Theoriekritik anti-liberal, wenngleich konventionell ist, ließe sich noch viel retten, wenn im dritten Teil, in dem die neuen politischen Subjekte mit ihren revolutionären Forderungen in den Blick genommen werden, nun endlich mit dem versprochenen Knall das Neue die Bühne beträte. Rhetorisch zumindest tut es das, denn de Lagasnerie ruft eine politische Theorie der Anonymität und der Flucht aus. Da heißt es dann, das Dispositiv der Anonymität solle gestatten, „das Rederecht umzuverteilen, indem die Kosten der Politik gesenkt werden – mehr noch, indem die Idee aufgelöst wird, der zufolge die Politik die Handelnden etwas kosten müsse.“ (98) Anonymes Handeln erlaube Duplizität und Verstreuung, was wiederum den Widerstandsgeist kultiviere und hegemoniale Institutionen destabilisiere. Revolutionär wird es, weil „das anonyme Handeln die Bildung eines Konflikts [ermöglicht], der von jeglicher Sphäre der Reziprozität befreit ist. Anonym zu handeln bedeutet, dass man in der Lage ist, dem anderen nicht zu erscheinen und nicht in eine Szene der Interaktion mit demjenigen einzutreten, gegen den man sich gezwungen sieht zu kämpfen.“ (107) Nicht nur, dass WikiLeaks und Co. mittels Anonymität die strukturelle Asymmetrie beenden, die demnach bisher die agonalen Fantasien radikaler Demokratie im Zaum hielt, Snowden, Assange und Manning sollen darüber hinaus auch noch als Symbolfiguren herhalten. Als Märtyrer nämlich, die durch ihr Vorbild gezeigt haben, wie radikal die Abkehr vom nationalstaatlichen Container und seinem repressiven Recht auszusehen habe: „Snowden – man könnte dasselbe für Assange zeigen – verfolgt umgekehrt eine Praxis der Aufhebung der Unterwerfung, die ihn dazu führt, seiner Nation nicht mehr anzugehören: Zu einem bestimmten Zeitpunkt hat er beschlossen, von ihr wegzugehen, sie zu verlassen, sich von ihr zu trennen. Für ihn ging es weniger darum, ungehorsam zu sein, als vielmehr darum, auszuscheiden.“ (124)

Empirisch liegt darin zunächst einmal eine groteske Über- oder sogar Fehlinterpretation, da der Autor völlig ignoriert, wie die digitalen Dissidenten sich selbst zum Thema positionieren. Snowden etwa betont permanent, dass es ihm um institutionelle Kontrolle gehe und er gerade auf die Selbstheilungskräfte repräsentativer Demokratie setze; auch räumt er offen ein, dass er im Fall eines fairen öffentlichen Prozesses gerne in die USA zurückkehren würde. Snowden wie auch Chelsea Manning argumentieren konsequent für Öffentlichkeit und Verantwortungsübernahme, de Lagasnerie verklärt also ihre strategischen Entscheidungen (etwa Snowdens Dokumentenübergabe in Honkong und sein Stranden in Moskau) zu essenziellen Wahrheiten. Selbst für Assange, dessen Ansichten zu Staat, Anonymität, medialer Öffentlichkeit und Veröffentlichungspraxen weit radikaler sind (s. den frühen Blogeintrag Conspiracy as Governance) gilt, dass seine ‚Flucht‘ zumindest nicht ausschließlich als Absage an persönliche wie politische Verantwortung interpretiert werden kann.

Selbst wenn man die Interpretation einfach als theoretische Abstraktion akzeptiert (was de Lagasnerie an einigen Stellen erbittet), wird aus dem Wortgeklingel jedoch kein konsistenter Gedanke. So ist die von de Lagasnerie entworfene Theorie der Anonymität schon deshalb kein Substitut für eine Theorie der Öffentlichkeit, weil Anonymität höchstens eine Leistung von Öffentlichkeit ersetzen könnte. Die Auseinandersetzung mit den Mächtigen kann nämlich freier erfolgen, wenn man nicht persönlich dafür geradestehen muss. Obwohl dieses Argument für manche Fälle einleuchtet (die Möglichkeit anonymer oder pseudonymer Kommunikation spielt schließlich selbst im Herzen der repräsentativen Demokratie, beim geheimen Wahlakt, eine Rolle), verkennt de Lagasnerie zumindest, dass anonyme Kommunikation nur kontextuelle Wirkung entfaltet und Machtasymmetrien ebenso gut befördern kann (Diffamierung und Hetze gegen Minderheiten wären tagesaktuelle Beispiele). Vor allem aber übersieht er, dass der Öffentlichkeit noch eine Vielzahl anderer demokratischer Funktionen zukommt, bei der pluralistischen, aber eben auch Begründungen formulierenden Meinungsbildung einmal angefangen.

Zu guter Letzt ist auch seine Annahme, im anti-hegemonialen Zusammenschluss sei Anonymität die Basis für individuelle Ermächtigung und soziale Bewegung zugleich, einseitig. Das Kollektiv Anonymous dient ihm als Illustration für diese Möglichkeit, doch gerade in Hinblick auf längerfristige und konstruktive Politikprozesse wäre nach den Grenzen unstrukturierter Kommunikation zu fragen. Die oben zitierten Kosten des Politischen, der Mut, den die Verantwortungsübernahme und Adressierung der Mächtigen erfordern, schlagen eben immer zu Buche, wenn kollektive Prozesse strukturbildend werden sollen oder Kompromisse gefragt sind – und beides muss auch anti-hegemoniale Politik beizeiten leisten, selbst wenn sie keine neue Staaten schaffen, sondern nur die Fortsetzung des Protests mittels Zeit und thematischer Inklusionen erreichen will. Politik ist in de Lagasneries Ansatz daher eigentlich kein kollektives Unterfangen mehr, sie verliert ihre soziale Dimension und wird nur noch als verkitschter Kampf von denen da unten gegen das System da oben gedacht. Ganz zu schweigen davon, dass er naiv annimmt, eine Invisibilisierungsstrategie zahle sich nur für die eine Seite aus.

An dieser Stelle zeigt sich erneut, wie wenig ‚neu‘ der Gedanke de Lagasneries ist. Wenn er im Schlusskapitel das Internet als Infrastruktur mystifiziert, die diesen Kampf erst möglich macht, dann reproduziert er genau jene Vorstellung eines horizontal strukturierten, virtuellen Raums, der ein anarchisches Zusammenspiel befördert. Er bietet somit nichts weiter als eine maue Variation der Netzutopie 1.0, die mit „You have no sovereignty where we gather“ oder “On the internet, nobody knows you’re a dog” spätestens in der Mitte der 1990er-Jahre ihren Scheitelpunkt überschritten hatte. Derartige (letztlich dann eben doch technikdeterministische) Vorstellungen von der Wirkungsweise digitaler Kommunikation sind schon lange als nicht hinreichend sensibel für politische Prozesse sowie an der technischen Entfaltung des Internets als Massenkommunikationsmediums scheiternd dechiffriert worden. Die emanzipatorische Nutzung digitaler Kommunikationsstrukturen erfordert gerade eine gewisse aktive demokratische Strukturierung des virtuellen Raums und die aktive Sicherung seiner Möglichkeiten – hierfür steht insbesondere Edward Snowden mit seinem Handeln. Sie erschöpft sich keinesfalls in der Idee eines archaischen Kampfes unter taktischer Ausnutzung sehr einseitig gedachter technischer Gegebenheiten.

So bleibt de Lagasneries Buch ein aufmerksamkeitsheischender, jedoch wenig substanzieller Versuch, über die sich verändernden Konfigurationen von Gesellschaft, Politik und Technik sowie den Wandel von Protest- und Beteiligungsformen nachzudenken. Zu eindimensional fallen die theoretischen Erörterungen aus, zu phrasenhaft ist seine Zeitdiagnose. Die Kunst der Revolte sollte nicht darin bestehen, scheinbar radikal die Neuheit eines Phänomens auszurufen, sondern tatsächlich abzuwägen, wie soziale Kämpfe unter sich ändernden Bedingungen auszutragen sind.

 

Diese Rezension erschien zuerst auf Soziopolis.


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