(K)eine Erzählung. Zu Albrecht Koschorkes „Hegel und Wir“

Lesenotiz zu: Koschorke, Albrecht (2015): Hegel und wir. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2013. Berlin: Suhrkamp.

Wer eine Vorlesung, die den Namen Adornos trägt, hält, stellt sich in eine Tradition, die kritisches Denken als zentrale Aufgabe der Theorie ausweist. Nun dienen die Adorno-Vorlesungen seit ihrer Etablierung im Jahre 2002 nicht als Medium der Exegese seines Werkes und stellen kein pedantisches Klammern an ihren Namensgeber dar. Doch das selbsterklärte Ziel der Vorlesung ist es immerhin, „mit Adorno über Adorno hinaus“ zu denken (Honneth zitiert nach TAZ online), wie Axel Honneth, Direktor des IfS, selbst betont. Damit steht immer auch die Frage nach der Verfasstheit der Gesellschaft und ihrer Kritik im Raum.

Albrecht Koschorke (Konstanz) scheint durch seine Auseinandersetzung mit Hegel im Rahmen der Adorno-Vorlesung (2013) zunächst einer Gruppe von Philosophen/innen anzugehören, die gegenwärtig die Frage der Kritik durch einen Schritt zurück zu Hegel und historisch hinter Adorno zu beantworten versuchen. Doch statt einer philosophischen Rekonstruktion des kritischen Potential Hegels, wie es Honneth, Pippin oder Buck-Morss versuchen, unternimmt Koschorke eine historisch-diskursive Verortung des deutschen Idealisten. Während die philosophische Perspektive an systematischer Strenge und eindeutigen Begriffen orientiert ist, interessieren Koschorke, ganz seiner literaturwissenschaftlichen Profession entsprechend, die kultursemiotischen Gebrauchsspuren der Begriffe, die Ambiguitäten und Sprünge theoretischer Überlegungen (vgl. S. 132f.). Seine nun unter dem Titel „Hegel und wir“ erschienene Vorlesung widmet sich zweier Fragen: 1) Zu welchen erzählerischen Mitteln greift Hegel, um seine enorm komplexen und oftmals widersprüchlich erscheinenden Überlegungen in einem streng dialektisch verfahrenden System zu integrieren und dieses zugleich seinen preußischen Zeitgenossen/innen als Wahrheit über den Heilsverlauf der Geschichte zu präsentieren? 2) Welche Bedingungen verhindern gegenwärtig die Etablierung eines derartigen, mit einer starken Faszinations- und Integrationskraft ausgestatteten Narrativs über Europa? Koschorke widmet sich somit nicht nur Hegel und dessen Zeit, sondern zieht Parallelen zwischen einem von Napoleon besiegten Preußen und dem heutigen Europa, das zwischen supranationaler (beziehungsweise intergouvernementaler) Integration und nationalstaatlicher Abschottung oszilliert.

Hegel, ein Preuße

Preußen verortet Koschorke an der Grenze von agrarischer zu frühindustrieller Gesellschaft. Nach der Niederlage gegen Napoleon strebt gerade das Beamtentum danach, Kompetenzen staatlich zu zentralisieren sowie ein einheitliches Rechts-, Steuer- und Bildungssystem zu etablieren. Dabei muss es sich gegen noch lokal existierende Machtzentren und ein ständisches Partikularrecht behaupten (vgl. S. 79). Innerhalb dieser interessen- und hegemoniepolitischen Gemengelage entwirft Hegel sein philosophisches System, das Preußen als Endpunkt einer sich weltweit vollziehenden zivilisationsgeschichtlichen Entwicklung der sukzessiven Entfaltung von Vernunftpotentialen charakterisiert. Diese mit einem aufklärerischen Gestus versehene und mit Begriffen wie Geist, Fortschritt, Staat oder Bildung (vgl. S. 27) operierende Legitimation der preußischen Bürokratie kann als eine bewusste politische Intervention in damalige Kräfteverhältnisse verstanden werden.

In erzähl- und literaturwissenschaftlicher Perspektive stellt der politisch motivierte Entwurf des hegelschen philosophischen Systems eine enorme Anstrengung dar. So führt Hegel verschiedene bereits virulente Motive der aufklärerischen, spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie zusammen (vgl. S. 47). Dieser „textuelle[n] Verdichtung“ (S.134) obliegt die Aufgabe, unterschiedliche historische Prozesse zu integrieren und dabei begründungstheoretische Gräben zu überspringen. Hegels Narrativ über einen geordneten, unterschiedliche soziale Systeme (Recht, Markt, Politik) und soziale Beziehungen harmonisch integrierenden preußischen Staat steht einer kontrafaktischen Situation der Zersplitterung und sich erst vollziehenden Etablierung der genannten Systeme gegenüber.

Subjekt und System/Weltgeschichte

Doch Hegel steht nicht allein vor der schwierigen Aufgabe, soziale und politische Konflikte in seinem Entwurf versöhnt darzustellen, sondern muss ebenfalls aufgrund innerphilosophischer Hürden auf Mittel der Rhetorik zurückgreifen. Um darzulegen, wieso Hegel die im späteren Verlauf des Buches erschlossenen narrativen Mittel benötigt, rekonstruiert Koschorke zunächst den Wandel des Argumentationscharakters philosophischer Überlegungen in der Moderne. Statt deduktiver Ableitungen, deren letztbegründendes Fundament göttliche oder transzendentale Ideen darstellen, vollzieht Hegels Denken rekursive Schleifen: Seine Überlegungen stellen einen reflexiven Kreislauf dar, indem sich anfänglich gesetzte Prämissen als Ergebnis des auf den Prämissen fußenden Denkprozesses erweisen – der Grundsatz ist zugleich das Resultat des Denkens, die kontingenten Prämissen werden als notwendig ausgewiesen.

Die Darstellung von Weltgeschichte in solch einem systematischen Denken bedingt, dass alles, was nicht Teil des Selbstverständnisses einer modern-aufgeklärten Gesellschaft ist, außerhalb der Darstellung verbleibt. Denn nur jene normativen Momente, durch die sich eine freie Gesellschaft auszeichnet, können im rekursiv verfahrenden Denken als Prämissen und letztendlich Resultat gelten. Daher partizipieren Hegel zufolge staatenlose Völker (wie die indigenen Einwohner/innen Amerikas) nicht am weltgeschichtlichen, im Staate mündenden Prozess (vgl. S. 116f.).

Eine Geschichte ohne Erzählende/n?

Koschorke beginnt an diesem Punkt seiner Darstellung, Aspekte des Hegelschen Denkens zunehmend erzähltheoretisch zu formulieren. Fachspezifische Überlegungen, die vorher nur en passant eingestreut werden, bilden nun den gesamten Reflexionsboden. So wird der historische Beginn rekursiven Systemdenkens als Einsatzpunkt eines geschichtsphilosophischen Erzählens erkennbar, in dem der/die Erzählende sich selbst durchstreicht (vgl. 96ff.): Die Geschichte führt – wie Hegel in der Einleitung zu den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ selbst hervorhebt (vgl. dort S. 26) – alle Bedingungen der Möglichkeit ihrer (vernünftigen) Erkenntnis mit sich. Diese Annahme läuft darauf hinaus, Geschichte als Selbstvollzug zu verstehen, der keines/r Erzählenden mehr bedarf, da alles, was über Geschichte sagbar ist, bereits von dieser selbst mitgeführt wird. Ein Außerhalb von Geschichte, von dem aus beobachtet werden kann, verschwindet, da jeglicher Boden innerhalb der einen Geschichte liegt. Die aktiv gestaltende und interpretierende Tätigkeit einer Erzählung wird negiert zugunsten einer immer schon präsenten Wahrheit: „die Geschichte absoluten Wissens [ist] identisch […] mit der Retrospektive absoluten Wissens“ (S. 101).

Die grundlegende Absicht Koschorkes und das genuin Eigene des Buches ist es, herauszuarbeiten, inwiefern Hegel ausgehend von diesen Annahmen (über Geschichte und System) zu erzählerischen Mitteln greifen muss, um seinem Systemdenken Plausibilität zu verleihen, und welche Inkongruenzen, die eigentlich erzählerisch gelöst werden sollen, dadurch entstehen.

Dass Hegel die Position des/r Erzählenden stillschweigend wieder einführt, wird deutlich an der „offenbarungstheologische[n] Erzählweisen“ (S. 99), die vom Ende der Geschichte her von deren vernünftigen Vollzug erzählt. Diese „olympische Erzählposition“ (S. 102) behauptet jedoch implizit einen außerweltlichen Ort der eigenen Rede. Dass dies problematisch ist, erklärt Koschorke mittels systemtheoretischer Überlegungen Luhmanns: Operativ/rekursiv geschlossene Systeme beobachten sich ausschließlich ausgehend von den eigenen „systeminternen Beobachtungsbedingungen“, sodass die „die Umstände ihrer eigenen Instituieren grundsätzlich nur von innen her [zu] apperzipieren“ (S. 102) sind. Gerade hinsichtlich der Beschreibung der Systemgenese führt das zu der Unmöglichkeit, den eigenen Anfang zu beschreiben.

„Ein System, dass sich an seine eigenen Entstehung ‚erinnern‘ wollte, […] müsste erkenntnistechnisch vor den Zeitpunkt seiner Entstehung gelangen können und dies aus der einzigen zur Verfügung stehenden Perspektive, nämlich der Innenansicht. Um den Ursprung als Vorher/Nachher-Schwelle zu überblicken, muss man mehr wissen, als man innerhalb der durch eben diesen Ursprung entstandenen und begrenzen Welt wissen kann“ (S. 103).

Koschorke reformuliert dieses erkenntnistheoretische Problem in der Sprache der Literatur(wissenschaft):

„Derartige Zirkel sind vergleichbar damit, dass Romanfiguren Geschichten darüber ersinnen, wie sie zu Romanfiguren geworden sind – gleichsam in einem Sprung aus dem diegetischen Rahmen in der Art der für das Genre der Phantastik charakteristischen Metalepse“ (S. 103).

Das paradoxe Unterfangen Hegels, den Anfang der eigenen Geschichte zu erzählen, führt Koschorke zufolge zum Oszillieren zwischen zwei Erzählerpositionen (vgl. 128f). Das Wissen des ersten ist gesellschaftlich-historisch innerhalb der Geschichte situiert; der zweite spricht von der außergeschichtlichen Warte absoluten Wissens aus und muss die dunklen Ursprünge der eigenen Entstehung ausschmücken. Verortet im Gattungsschemas Northrop Fryes (vgl. S. 140f.), stellt Hegel einen „Mythopoeten“ (140) dar, der die Eigenmächtigkeit geschichtlicher Entwicklung als allen anderen Menschen überlegenen Weltgeist personifiziert. Besonders Hegels Beschreibungen der Sphäre des Staates gelten Koschorke als Mythopoetik. Zu einem mimetischen, komödiantischen Stil greift Hegel jedoch bei der Beschreibung jener geschichtlichen Kontingenzen, die sich nicht bruchlos ins Bild seines Narratives fügen lassen. All diese irdischen Zufälligkeiten und Individuen, die anderen Mächten ausgesetzt sind, werden ironisch dargestellt.

An diesen Stellen des Buches hätten einige Hegels Stil belegende Zitate Koschorkes Deutungen anschaulicher gemacht. Dafür spürt Koschorke andere rhetorische, von Hegel verwendete Stillmittel vielerorts auf. Zu den relevanten „Ausdrucksmittel[n] der Vereinfachung und Entdifferenzierung“ (S. 145) zählen Analogien von Ontogenese und Phylogenese, Lebens- und Weltalter, der Parallelismus der gleichartigen Entwicklung von Ökonomie, Moral und Staat, die bereits genannte Personifizierung und die Synekdoche bzw. das Pars pro toto, jedes Element stehe für das Ganze, dass das Wahre sei (vgl. 47ff.).

Und Europa?

Wiederholt rückt Koschorke genau und exemplarisch die narrativen Komponenten der Hegelschen Theorie ins Bild. Das ist der Fokus und das sind die herausragenden Eigenschaften seiner Adorno-Vorlesung. Dünner, weniger exakt und weitreichend setzt er sich mit dem Thema Europa auseinander. Die Bezüge zwischen Preußen und Europa werden mehr durch Hinweise als mittels einer analytisch-systematischen Auseinandersetzung hergestellt. Koschorke ist eben kein vergleichender Politik-, sondern ein Literaturwissenschaftler, der sich für die Frage, wieso sich gegenwärtig kein ebenfalls wirkmächtiges, stark integrierendes Narrativ über Europa etabliert, interessiert. Mag diese Frage diskutable sein, so wirkt sie im Fluss des Buches nebenbei eingeschoben und macht daraus eine eher krumme als runde Geschichte.

Zur ihrer Beantwortung trägt Koschorke dennoch Material zusammen und urteilt, dass die vermeintliche Schwäche, über kein starkes Narrativ zu verfügen, die eigentliche Stärke Europas sei. Das „facettenreiche[…] Nebeneinander von teils konträren Milieus und Tendenzen“ sei „einer forcierten Synthese, die weder gedacht und gelebt werden kann“ (S. 193) vorzuziehen. Denn Europa zeichne sich durch einen offenen Einzug und einen schwachen Kern aus, sei konstituiert durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Kräften, die in einem konsistent erzählten Narrativ der Vereinheitlichung zum Opfer fielen (vgl. S. 189). Eine realpolitische Umsetzung solch einer Nivellierung hätte Ab- und Ausgrenzungen – wie sie gegenwärtig an den geographischen Grenzen Europas vollzogen werden – sowie eine Verschärfung ideologischer Fragen, wer noch zu Europa gehöre (die Türkei? Großbritannien?), zufolge.

Das Ende der Erzählungen und die Kritik

Mit diesem Urteil unterstreicht Koschorke die – selbst zur Erzählung gewordene – postmoderne Annahme vom Ende der großen Erzählungen, wie sie Lyotard einst in „Das postmoderne Wissen“ formulierte, und schließt an das Konzept der multiple modernities an, dem zufolge nicht nur eine einzige, sondern mehrere Geschichten über die Genese verschiedener, allesamt moderner Gesellschaften existieren. Offen bleibt die Frage, inwiefern diese Adorno-Vorlesung mit ihrem Namensgeber eine Diskussion führt. Einzig ein eher persönlicher Bericht über die im Alterungsprozess zunehmende Distanzierung Koschorkes vom Denken Adornos zu Beginn des Buches lässt dies zunächst vermuten und zeigt eine Beschäftigung mit jenem und der Kritischen Theorie an. Eine tatsächliche Auseinandersetzung mit dem Begriff der Kritik oder zumindest der eigenen Haltung zum Dargestellten, findet jedoch nicht statt – auch wenn mancherorts der Systemzwang Hegels skeptisch und distanziert rekonstruiert wird.

Dennoch ist „Hegel und wir“ äußerst lesenswert. Sprachlich elegant und beschlagen mit philosophischen, soziologischen und geschichtlichen Wissen unterrichtet die Vorlesung über die begriffs- und mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen des deutschen Idealismus. Das Buch wählt einen eigenen, bedenkenswerten Zugang zu den (gerade erzählerischen) Problemen, die sich aus der Verbindung von System und Geschichte, Transzendenz und Immanenz ergeben und versucht diese Themen auf das heutige Europa zu beziehen. Eigen ist der Zugang, weil er das Erzählen nicht als Nebenschauplatz, sondern als ebenso zentral wie die Entwicklung logischer Kategorien versteht.

Markus Baum, M.A. (Institut für Soziologie der RWTH Aachen) beschäftigt sich mit Fragen der (kritischen) Sozial- und Politischen Philosophie, der Ästhetik und Ethik sowie der Gesellschaftstheorie. Er veranstaltet die Vortrags- und Kolloquiumsreihe „Grenzgänge Politischer Theorie“. Sein Promotionsvorhaben trägt den Arbeitstitel „Der Ausschluss des Ästhetischen“ und unternimmt eine immanente Kritik der Theorie des kommunikativen Handelns mit dem Ziel, die gegenwärtige Gesellschaft angemessener beschreiben und dem in ihr artikulierten Leiderfahrungen gerechter werden zu können. 

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