theorieblog.de | Zwei Stimmen zu Griechenland

1. Juli 2015, Ladwig, Volk & Voelsen

Die Situation in Griechenland spitzt sich zu. Nachdem die Verhandlungen zwischen der griechischen Regierung und den “Institutionen” am Wochenende zu keinem Ergebnis geführt haben, rückt der griechische Staat an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. Immer öfter und immer lauter wird über die Möglichkeit eines “Grexit” gesprochen, eines Austritts Griechenlands aus der Euro-Zone. Für den kommenden Sonntag hat die griechische Regierung ein Referendum über das jüngste Angebot der “Institutionen” angekündigt, verbunden mit der klaren Empfehlung, dieses Angebot abzulehnen. –– Wir wollen mit euch darüber diskutieren, wie diese Entwicklungen einzuschätzen und zu bewerten sind, was sie für die Zukunft Griechenlands und Europas bedeuten. Den Auftakt hierfür bilden zwei Kommentare von Bernd Ladwig (Berlin) und Christian Volk (Trier), die wir für euch im Folgenden zusammengestellt haben.

Bernd Ladwig: Warum Syriza gescheitert ist – eine Hypothese

Warum gingen die Verhandlungen mit der neuen griechischen Regierung so furchtbar schief? Manche mögen sagen: weil sich die Spieltheoretiker um Varoufakis verzockt haben. Aber das hätten gewiefte Spieler schneller merken müssen: Es zeichnete sich schon ab, als der frühe Versuch der Syriza-geführten Regierung, Deutschland im Euroraum zu isolieren, stattdessen mit einer Selbstisolierung Griechenlands endete. Wer danach genau so weiterspielte, war entweder Dilettant – oder hatte eine andere Agenda.

Eine zweite Antwort lautet: weil Merkel und die anderen neoliberalen Bösewichter die griechischen Streiter für ein solidarisches Europa unbedingt kleinkriegen wollten und diesen deshalb keinen Verhandlungserfolg gönnten. Nun mag das mit Blick auf Schäuble oder auch den IWF noch eine Spur von Glaubwürdigkeit besitzen. Aber zu den von der griechischen Verhandlungsführung Genervten gehören noch ganz andere; die Reihe wurde täglich länger. Gabriel, Steinmeier, Martin Schulz, Juncker, Dijsselbloem: alles neoliberale Merkel-Knechte? Oder eher Leute, die nichts mehr fürchteten als ein Platzen der Illusionsblase „Einmal im Euro, immer im Euro“? Leute, die Europapolitik als ein zähes Ringen um Kompromisse und Konsense kannten, als eine Veranstaltung, deren Drögheit garantierte, dass keiner von der Stange ging? Leute, die sich nun konfrontiert fanden mit der Sprunghaftigkeit und dem polternden Ton einer Truppe, die es fertigbrachte, die eigenen Verhandlungsangebote anderntags als unverschämtes Fremddiktat zu verdammen?

Diesem letzten Eindruck folgend, möchte ich eine andere Hypothese zur Diskussion stellen: Mit der griechischen Regierung ist das Politikverständnis einer postmodernistischen Linken (kurz: Pomo-Linken). an praktische Grenzen gestoßen. Wen ich damit meine? Jeder kennt die Pomo-Linke, der, wie ich, das zweifelhafte Vergnügen hat, in Gremien der Freien Universität Berlin zu sitzen. Das Studentische ist überhaupt ihr Lebenselixier. Nun aber durften auch die Europa-Profis mit ihr Bekanntschaft machen – und sie waren „not amused“. Sie erlebten eine Truppe, die den redelastigen, forderungsfreudigen und verabredungsscheuen Politikstil eines Allgemeinen Studierendenausschusses in die europäischen Institutionen trug.

Die Pomo-Linke geht aus von einer vernünftigen Grundeinsicht, die sie aber durch Übertreibung ruiniert. Die Einsicht lautet, dass das Soziale eine Konstruktion sei und also grundsätzlich auch anders sein könnte. So weit, so richtig, ja trivial. Also wiederholt die Pomo-Linke bis zum Überdruss: Alles könnte ganz anders sein, wenn wir es nur wollten. Alles ist eine Frage der Kräfteverhältnisse. Alles hängt davon ab, wie wir es betrachten und bezeichnen.
Nun ist richtig, dass soziale Tatsachen nicht unabhängig sind von den Einstellungen, die Menschen zu ihnen einnehmen. Ohne diese Einstellungen gäbe es keine Kanzlerinnen, keinen Wechselkurse und keinen Währungsfonds. Es gäbe nicht einmal Deutschland oder Griechenland. Trotzdem führt der Spruch „Alles könnte anders sein, wenn…“ leicht in die Irre. Soziale Tatsachen sind nämlich nicht nur sozial, also durch uns entstanden, sondern auch Tatsachen, also mitnichten beliebig und auf einen Schlag änderbar. Zu den sozialen Tatsachen gehört zum Beispiel, dass Geld nicht auf den Bäumen wächst und man es auch nicht nach Belieben nachdrucken kann, ohne dass Menschen irgendwann am Wert der Währung zweifeln.

Zu den sozialen Tatsachen im Euroraum gehören auch Rechtsregeln, Vereinbarungen, Verfahrensvorschriften, eingespielte Erwartungen und Vetopositionen. Ein formeller Schuldenschnitt, dem erst noch neunzehn nationale Parlamente ihren Segen geben müssten, kann nicht mal eben auf Chefebene von Merkel und Tsipras für alle verbindlich verkündet werden. Sicher sind europäisches Regelwerk und Routinen auch nicht in Granit gehauen. Aber wer sie ändern wollte, müsste sich eben auf das mühselige Geschäft des Änderns sozialer Tatsachen einlassen. Dafür aber genügen keine metatheoretischen Pirouetten auf der Eisfläche „Kontingenz“, dafür reicht nicht das Abnudeln der Langspielplatte „Alles könnte auch anders sein“.

Damit kein Missverständnis entsteht: Die Pomo-Linke ist zum Glück nicht die einzige Linke, die es gibt. Es gibt auch Linke, die um die soziale Gemachtheit der sozialen Welt wissen und sich dennoch nicht im Wunschdenken verlieren. Einer solchen Linken fühle ich mich verbunden. Sie denkt, dass mit der Entscheidung für eine Währungsunion funktional wie normativ der Weg vorgezeichnet war zu einer Fiskalunion, zu einer Art europäischem Länderfinanzausgleich und letztlich zu einer politischen Union. Und sie hält in der Krise eher eine keynesianische Politik für angebracht als eine prozyklische Politik des forcierten Sparens. Aber die Syriza-Regierung hat nichts dazu beigetragen, die Basis für eine solche Politik in Europa zu verbreitern. Und sie hat zusätzliche Zweifel daran gesät, dass eine weitere Vertiefung der europäischen Integration mit diesem Griechenland und seinen extraktiven Institutionen möglich wäre.

Auch wollte ich nicht gesagt haben, dass die Pomo-Linke immer und überall nur Verwirrung stiften und Schaden anrichten kann. Sie hat ihr relatives Recht und ihren sozialen Ort. Sie spielt eine wichtige, vielleicht unverzichtbare Rolle in sozialen Bewegungen wie Blockupy, die außerinstitutionell Druck machen, (auch) damit sich innerinstitutionell etwas ändern kann. Das Elend mit der Tsipras-Regierung ist nur, dass sich hier die Pomo-Linke ins europäische Verhandlungssystem verirrt hat. Das erklärt teilweise die Verwirrung und Verärgerung der anderen und ihr eigenes Scheitern. Und es wird wohl leider schlimme Folgen vor allem für Millionen Griechen haben – Folgen, die wir zu den sozialen Tatsachen über unser Europa werden addieren müssen, an denen sich nichts ändert, nur weil manche sie nicht wahrhaben wollen.

Christian Volk: Die Entdemokratisierung Europas geht in eine neue Runde

Die Konfliktparteien in der griechischen Schuldenkrise scheinen buchstäblich „die Sache gegen die Wand gefahren zu haben“ – und mit „der Sache“ ist hier nicht nur der Staatsbankrot Griechenlands gemeint, sondern mittelfristig auch die Europäische Union gleich selbst. Denn was sich hier als die Eurogruppe plus (ehemalig) Troika etabliert, ist ein supranationales Monstrum aus Technokratie und Exekutivföderalismus, das nicht nur alle zaghaften institutionellen und vertraglich festgehaltenen (!!!) Bemühungen um Demokratisierung der EU seit Monaten vollständig ad absurdum führt, sondern auch vielen anderen Gesellschaften innerhalb der EU vor Augen führt, was ihnen droht, wenn sie sich gegen die mit „neu-deutscher Robustheit“ (Habermas) diktierte, gegenwärtig Staats- und Regierungschefs übergreifende Version vom richtigen Wirtschaften stellen. Sowohl als spanische oder portugiesische BürgerIn als auch als AnhängerIn einer demokratischen EU kann einem hier nur Angst und Bange werden. Ein solches Regieren in Europa ist extrem gefährlich. Sollte die griechische Regierung wirklich die vorgesehenen Reformauflagen (siehe ‚list of prior actions‚) akzeptieren, könnten sie das griechische Parlament für die nächsten Jahre schließen. Der Gestaltungsspielraum in zentralen Politikfelder wäre dann nämlich gleich null – von der Mehrwertsteuer über die finanz- und strukturpolitischen Maßnahmen, die Rentenreform, die Neustrukturierung der öffentlichen Verwaltung ist sprichwörtlich bis auf den Prozentpunkt alles vorgegeben. Und, das sei hier angemerkt, lediglich um dieses Hilfspaket zu verlängern. Weitere werden folgen müssen, die sicher nicht weniger detailliert den politischen Gestaltungsspielraum von Parlament und Regierung einschränken würden.

Die paternalistischen Analogien vom „Hausaufgaben-Machen“, vom „Einsehen, dass man über die eigenen Verhältnisse gelebt habe“ sind ebenfalls Teil einer Entmündigungsstrategie. Neben der Tatsache, dass solche Analogien den politischen Gegner infantilisieren, verweisen sie auf einen Mangel an politischer Urteilskraft. Die griechische Regierung vertritt eine Position, für die sie von den griechischen WählerInnen legitimiert worden ist – und für die sie, wenn am Samstag Referendum ist, eine gnadenlose Mehrheit bekommen wird. Diese Position mag den deutschen und restlichen VerhandlungsführerInnen nicht passen – und das teils sogar mit guten Gründen. Auch ist das Auftreten der Regierung um Tsipras grenzwertig bis naiv – das von manchem Verhandlungsführer auf der Gegenseite ist jedoch nicht weniger fragwürdig. Aber darum darf es im Kern in einer so brisanten Lage nicht gehen − und es geht auch nicht darum. Was hier auf der europäischen Bühne exerziert werden soll, ist ein ökonomischer Weltanschauungsstreit. Statt die Frage im Blick zu halten, wie die Schuldenkrise Griechenlands so gelöst werden könne, dass sie dort nicht zu weiteren sozialen Verwüstungen (60% Jugendarbeitslosigkeit etc.) führt, dass sie Griechenland ein Zukunftsperspektive bietet und dass sie die politisch-institutionelle Krise der EU nicht noch weiter verschärft, wird hier ein Exempel statuiert: Marktkonformität im Konsolidierungsstaat oder raus! Wer so agiert, wird in der Tat „in der Mülltonne der Geschichte enden“ (Piketty), denn er opfert nicht nur alle Bemühungen einer nachhaltigen Demokratisierung der supranationalen Ebene dem Dogma der Marktkonformität, sondern in eklatanter Weise auch die parlamentarische Demokratie Griechenlands. Dabei ist es doch völlig offensichtlich, dass man den griechischen Staat weder zur Rückzahlung der Schulden verdonnern noch ihm weitere Sparmaßnahmen abverlangen kann. Beides ist nicht möglich und wird auch nicht passieren. Rentenkürzungen vor dem Hintergrund des griechischen „Sozialsystems“ (ein System ohne Arbeitslosenversicherung) ist ein staatlich verordnetes Pauperismus-Programm. Keine griechische Regierung – heute oder in Zukunft – kann ein solches Programm umsetzen, ohne dass sie aus dem Land gejagt wird. Politik hat immer auch etwas mit dem Anerkennen von Realitäten zu tun – und in gleicher Weise wie etliche Forderungen und Bestrebungen von Syriza unrealistisch sind und waren, so sind auch diese Forderungen schlicht unrealistisch – mögliches Investitionsprogramm hin oder her.

Was als Beobachter des ganzen Schauspiels schließlich in besonderer Weise frustriert, ist die geringe Anteilnahme, die Gleichgültigkeit innerhalb der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit gegenüber den Konsequenzen einer von Deutschland maßgeblich dominierten Politik in Griechenland – gepaart mit dem Mangel an Verständnis für die Folgen, die diese Geschichte für die Zukunft Europas haben wird. Wie bestimmte Zeitungen und Medien die „Jetzt reicht es“-Rhetorik zelebrieren und die Tatsache abfeiern, dass jetzt sogar Sigmar Gabriel „entsetzt“ sei, hat mit ernsthaften und kritischem Journalismus überhaupt nichts mehr tun. Getoppt wird das Ganze nur noch vom geschichtsvergessenen Chauvinismus des deutschsprachigen Boulevard in dieser Angelegenheit. Er suggeriert, dass sich hierzulande jeder und jede den „faulen Griechen“ überlegen fühlen darf – als ob die Tatsache, dass er, sie oder ich einen Arbeitsplatz haben, in erster Linie von unseren individuellen Qualitäten abhinge. Wir könnten unser Glück ja mal in Griechenland versuchen!

Bernd Ladwig ist Professor für politische Theorie und Philosophie an der Freien Universtität Berlin. Christian Volk ist Juniorprofessur für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Trier und war viele Jahre Mitglied des Theorieblog-Redaktionsteams.


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