theorieblog.de | Teilzeit für alle? Bericht über den Workshop Love and Care in the Time of Capitalism

6. Juli 2015, Esther Neuhann

Konflikte zwischen Anforderungen der Arbeit und des Privat- und Familienlebens werden medial breit diskutiert. In Deutschland zum Beispiel unter dem Stichwort der Vereinbarkeitslüge. Die derzeitige mediale Wirksamkeit dieser Konflikte war der erklärte Anlass des Workshops Love and Care in the Time of Capitalism, der am 24. und 25. Juni am Frankfurter Exzellenzcluster stattfand. Das Interesse der Öffentlichkeit an dem Thema sei einerseits erfreulich, andererseits würden Widersprüche zwischen Beruf und Privatleben zu oft als individuelle Probleme (von Frauen) konzeptualisiert. Die Organisatorinnen, Federica Gregoratto und Mara Marin, wollten deshalb die Verankerung dieser Konflikte in sozial-kulturelle, politische und ökonomische Strukturen ins Zentrum rücken. Dabei ging es auch um die Frage, welche normativen Begriffe geeignet sind, um solche Strukturen zu kritisieren und darum, konkrete Ideen zu entwickeln, wie das Verhältnis von Arbeit und care anders und besser gesellschaftlich organisiert werden könnte.

 Was ist care?

Auch wenn es im Titel „Love and Care“ hieß, lag der Schwerpunkt des Workshops auf „care“. Care wird meistens nicht übersetzt, da der Begriff im Englischen über mögliche Übersetzungen wie Haus-, Pflegearbeit oder Erziehung hinausgeht; er umfasst ein breites Spektrum an Tätigkeiten und schließt in seiner Definition zudem eine bestimmte emotionale bzw. moralische Haltung des care givers ein. Der moralische Wert dieser Haltung wird von der moralphilosophischen Strömung, care ethics, hervorgehoben und unterschieden von dem (vermeintlichen) Desiderat vieler Moral- und Gerechtigkeitstheorien, eine von konkreten Umständen möglichst distanzierte Haltung einzunehmen. Im Gegensatz zu dieser positiven Bewertung von care, warnen marxistische Feministinnen, wie Silvia Federici, davor, dass care (und love) ideologische Konstruktionen seien, die Frauen im Sinne kapitalistischer Akkumulation zu unbezahlter Arbeit bewegen. Diese moralphilosophische Perspektive – und ihre grundsätzliche Kritik – standen bei dem Workshop allerdings im Hintergrund. Am ersten Tag wurde in Bezug auf professionalisierte care-Arbeit zunächst diskutiert, was care als Tätigkeit oder Handlungstyp in der Praxis von anderen Aktivitäten und Arbeiten abgrenzt und welche spezifischen Probleme sich daraus ergeben. Die Idee der Organisatorinnen mit politiktheoretischem bzw. philosophischem Hintergrund, den Workshop interdisziplinär auszurichten, erwies sich hierzu als besonders fruchtbar.

Professionalisierte care-Arbeit

Im Anschluss an den Vortrag der Soziologin Maria Kontos über die arbeitsrechtliche Situation von live-in care workers entzündete sich eine Diskussion darüber, ob diese tatsächlich care-spezifisch ist. Live-in care workers sind (fast immer) Frauen, die über Wochen und Monate bei ihren Arbeitgebern zuhause wohnen, 24/7 bereitstehen, fast zu einem Teil der Arbeitgeberfamilie werden und somit kaum ein eigenes Privatleben haben. Beate Rössler monierte, dass Frauen mit zwei Jobs, die in ihren sehr kleinen Wohnungen lediglich zum Schlafen kämen, ebenso wenig Privatleben hätten. Ohnehin sei hier die Verwehrung des Privatlebens bloß von sekundärer Bedeutung und die ökonomische Ausbeutung der live-in care workers, wie die vieler anderer Arbeiterinnen und Arbeiter, das zentrale Problem. Es war aber gerade eine von Kontos zentralen Thesen, dass in Bezug auf die spezifische Situation von live-in care workers ein „Recht auf Privatheit“ als kritisches Instrument fungieren könne, da die spezifische und für die Angestellte oft problematische Vermischung von Arbeit und Privatheit eben nicht bloß ein ökonomisches Problem sei. Eine bemerkenswerte These, da aus feministischer Sicht traditionell ja gerade die Unantastbarkeit der Privatsphäre kritisiert wird. Die Frage nach der Spezifizität von professionalisierter care-Arbeit stellte sich auch im Vortrag von Evelyn Nakano Glenn, die im Bereich der Asian American Studies tätig ist. Sie vertrat die These, care-Arbeit sei insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass sie in Gender- und race-Hierarchien eine niedrige Position einnehme. Da somit prinzipiell auch einer anderen Arbeit diese niedrige Position zugeordnet werden könnte, zog Glenn die Spezifität von care-Arbeit als solcher in Zweifel.

Care und Elternschaft

Neben der Thematisierung der professionellen care-Arbeit beschäftigten sich Daniela Grunows und Lisa Y. Hallers Vorträge mit der Frage, wie heterosexuelle deutsche und europäische Paare mit dem neuen Bedarf an care umgehen, der entsteht, wenn sie Eltern werden. Ein zentrales Ergebnis der Forschungen der Soziologin Grunow ist, dass sich die Arbeitsteilung im Haushalt von heterosexuellen Doppelverdienerpaaren mit vergleichbarem Bildungsgrad mit dem ersten Kind deutlich hin zu traditionellen Mustern verschiebt. Dies gilt auch, wenn die Hausarbeit vor der Schwangerschaft egalitär geteilt wurde. Bemerkenswert war auch, dass bei nur 18% der heterosexuellen Doppelverdienerpaare in Westdeutschland die Frau 50% oder mehr zum gemeinsamen Einkommen beiträgt. Ursachen für diese Ergebnisse seien laut Grunow politische Institutionen und gender culture sowie das dissonante Zusammenwirken beider. In Bezug auf gender culture unterscheiden Grunow und ihre Kollegen zwischen drei Einstellungsclustern, die Individuen haben: einem egalitären, einem traditionellen und einem neuen Typ, „intensive parenting“. Bei diesem dritten Typ legen Eltern viel Wert auf die Erziehung und die Umsorgung ihrer Kinder. Hier entsteht ein neuer Konflikt, in den junge Eltern geraten, nämlich der zwischen Egalitarismus und „intensive parenting“. Wenn beide Elternteile (viel) arbeiten und das Kind umfassend umsorgt werden soll, fehlt die Zeit. Man könnte vermuten, dass dieser Konflikt in manchen Fällen zu einem Rückfall in traditionelle Rollenmuster führt – als einfachste Lösung des Konflikts – obwohl eigentlich keine traditionelle Einstellung vorhanden ist. An dieser Stelle spielen institutionelle Rahmenbedingungen eine zentrale Rolle. In Deutschland, so zeigte Haller, begünstigen familienpolitische Gesetze, wie z.B. das Ehegattensplitting, immer noch eindeutig ein traditionelles Einverdienermodell, das gut zu einem kapitalistischen Wirtschaftsmodell passe. Bemerkenswert waren dazu auch die Ergebnisse von Hallers qualitativer Studie, dass Frauen, die offensichtlich aus ökonomischen Gründen bestimmte Entscheidungen in Bezug auf ihre Arbeitssituation treffen müssen, diese nicht als politisch oder ökonomisch vermittelt wahrnehmen. Stattdessen eigneten sie sich ihre Entscheidungen als autonome an – ein anderer Weg, die Dissonanz möglicherweise progressiver gender culture mit einer ihr widersprechenden Realität zu vereinbaren?

Kritik an etablierten care-Normen

Am zweiten Tag des Workshops rückten die normativen und konstruktiven Fragen in den Vordergrund. Beate Rössler betonte, dass bei der Frage danach, welche geschlechtsspezifischen Normen der Arbeitsteilung zwischen Erwerbs- und care-Arbeit kritikwürdig seien, auch eine Reflexion der Position der Kritikerin notwendig sei: Wie kann die Kritikerin egalitäre Geschlechterverhältnisse als erstrebenswert begründen und diese normative Position nicht bloß voraussetzen? Sie schlug dazu vor, anstelle von Geschlechterideologien von „adaptive preferences“ zu sprechen; d.h. von individuellen Präferenzen, die durch bestehende Verhältnisse beeinflusst, aber nicht völlig determiniert würden – wie es von einem Ideologiebegriff suggeriert würde. Im Anschluss an ihr breit rezipiertes Buch Der Wert des Privaten (2001) erinnerte sie zudem an die Unterscheidung von privat und öffentlich, die für die Diskussion um die gerechte Arbeitsteilung von Erwerbs- und care-Arbeit entscheidend sei.

Jennifer Nedelsky machte als einzige konkrete Vorschläge, wie eine neue und bessere Organisation von Erwerbs- und care-Arbeit aussehen könnte. Kurz: Teilzeit für alle. Alle Erwachsenen sollten jeweils 12 bis 30 Stunden in der Woche für Erwerbs- und care-Arbeit aufwenden. Die care-Arbeit sollte dabei nicht entlohnt werden, sondern in kleinen care communities unbürokratisch organisiert sein. Nedelsky erhofft sich dadurch neben der Auflösung ungerechter geschlechterspezifischer Arbeitsteilung zahlreiche weitere positive Entwicklungen: ein Verständnis von Politikern für das Problem (da sie selber betroffen wären), weniger Umweltschäden durch geringeren Konsum aufgrund reduzierter Erwerbsarbeit und somit geringerer Kaufkraft und einen Wiedergewinn an Befriedigung durch care-Arbeit, die im Zeitstress verloren geht. Von Rössler und anderen wurde angemerkt, dass ihr Vorschlag auf einem starken Begriff des guten Lebens aufruhe, der nicht leicht zu rechtfertigen sei. Zudem wurde der inkrementell-pragmatische Charakter ihres Projekts in Frage gestellt: Sie sagte, ihr Vorschlag könne in liberal-demokratischen, kapitalistischen Gesellschaften, wie wir sie heute haben, umgesetzt werden. Aus dem Publikum kam der treffende Einwand, dass „Teilzeit für alle“ eine so weitreichende gesellschaftliche Umstrukturierung notwendig mache, dass der Slogan einer revolutionären Forderung gleichkäme.

Warum „Teilzeit für alle“ tatsächlich einer Revolution gleichkäme, provoziert grundlegende Fragen, die bei dem Workshop nicht ausführlich genug adressiert wurden (eine Ausnahme stellt m.E. Hallers Vortrag dar): Inwiefern hängen geschlechtsspezifische Normen der Arbeitsteilung zwischen Erwerbs- und care-Arbeit mit liberal-demokratisch, kapitalistisch organisierten Gesellschaften (notwendig) zusammen? Welche Rolle spielt dabei die Unterscheidung von öffentlich und privat? Welche moralische oder normative Position rechtfertigt diese Organisationsweise von Gesellschaften? Erfordern gerechte care-Normen auch eine care-ethische – oder eine ganz andere – Moralphilosophie? Schließlich: Wieso nehmen an so einem Workshop fast nur Frauen teil?

Hat der interdisziplinäre Charakter des Workshops erfreulicherweise dazu beigetragen, dass der Untersuchungsgegenstand, care, in seinem Verhältnis zu konkreten gesellschaftlichen Strukturen, erfasst wurde, sollten dabei die genannten grundsätzlichen Fragen nicht aus dem Blickfeld geraten. Dies sind zwar keine neuen Fragen – sie wurden beispielsweise von marxistischen Feministinnen, wie Silvia Federici (siehe oben), bereits gestellt –, aber vielleicht bietet die derzeitige mediale Präsenz von „Vereinbarkeitsproblemen“ für deren Thematisierung einen fruchtbaren Boden.

 

Esther Neuhann ist Doktorandin am Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie ist Promotionsstipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Rainer Forst. In ihrer Dissertation beschäftigt sie die Frage, ob eine kritische Theorie der Gerechtigkeit möglich ist. Dabei steht die Auseinandersetzung mit der zeitlichen Konstitution von Individualität und Sozialität im Vordergrund. 


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