Piketty-Buchforum (5): Marx is just a four letter word

Trotz seines Eingeständnisses, Karl Marx’ Das Kapital niemals wirklich gelesen zu haben, lässt es sich der Starökonom Thomas Piketty in seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert nicht nehmen, Marx gehörig die Leviten zu lesen. Seine mehrfach vorgetragene Behauptung, Marx habe „die Möglichkeit eines dauerhaften technischen Fortschritts und einer anhaltenden Produktivitätssteigerung völlig außer Acht gelassen“ (S. 24; ähnlich S. 47, 302), dürfte einen neuen Höhepunkt akademischer Marx-Verballhornung darstellen, schließlich ist für Marx das permanente Bemühen des individuellen Kapitalisten um die Steigerung der Arbeitsproduktivität durch die Einführung neuer Maschinerie und Technologie zum Zweck des Wettbewerbsvorteils die Kehrseite der Akkumulation und das zentrale Argument seiner Theorie der historischen Dynamik dieser Produktionsweise. Für Marx ist darin der zentrale Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise eingeschlossen: Denn um in der Konkurrenz bestehen zu können, ist das individuelle Kapital auf das höchste Produktivitätsniveau angewiesen und operiert damit von einem immer größeren Maschinisierungsgrad aus, weshalb zur Herstellung einer Ware immer weniger Arbeitszeit benötigt wird und das Kapital langfristig zur Verdrängung der Arbeitskraft aus dem Produktionsprozess tendiert, obwohl es sich doch nur durch die Anwendung („Ausbeutung“) lebendiger Arbeit erhalten kann.

Piketty zeigt sich folglich auch nicht dazu in der Lage, Marx’ Argumentation bezüglich des tendenziellen Falls der Profitrate korrekt wiederzugeben (S. 301-305), in dessen Zentrum ja gerade diese Verdrängung der lebendigen durch die tote Arbeit im Zuge der fortschreitenden Produktivkraftentwicklung steht. Freilich ist die notorische Marx-Zurückweisung eine zur Schau gestellte Versicherung, die grundlegenden Institutionen der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung seien immer noch diejenigen der besten aller möglichen Welten. So dürfen sich mit Pikettys Verkaufsschlager wieder einmal jene reformwilligen Freundinnen und Freunde der „sozialen Marktwirtschaft“ in ihrer Haltung bestätigt sehen, den blauen Bänden der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) auch weiterhin keine Beachtung  schenken zu müssen.

Es ist eine Tragödie, dass Marx nur noch als vierbuchstabige Chiffre für allerlei Projektionen herhalten muss, denn in den mittlerweile bald 150 Jahren nach dem Erscheinen der 1. Auflage seines Kapital ist es niemandem gelungen, eine avanciertere Darstellung und Kritik der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem idealen Durchschnitt vorzulegen. Mit Marx lässt sich zeigen, dass vor allem Pikettys Kapital-Begriff, der, wie er selbst auf S. 72 einräumt, eigentlich „Vermögen“ meint und damit an der Realität vorbeigeht. Nach Marx ist Kapital ein soziales Verhältnis, das den Kreislauf G-W-G’ am Leben erhält, also das bornierte und prinzipiell endlose Unterfangen, aus Geld über die Vernutzung lebendiger Arbeit im Produktionsprozess mehr Geld zu machen.

Kapital ist nicht dasselbe wie Vermögen. Die in den letzten Jahrzehnten angehäuften Geldvermögen, die hauptsächlich aus Aktien und sonstigen Finanzderivaten bestehen, sind gerade kein grundsolider kapitalistischer Reichtum. Sie basieren nicht auf ausgebeuteter Arbeit, sondern sind dem Wesen nach lediglich Kredit, also Eigentumstitel für in der Zukunft erst zu erwirtschaftenden Wert. Marx prägte hierfür den Begriff des fiktiven Kapitals. Zwar wird Geld (G) in mehr Geld (G’) verwandelt, jedoch ohne den für das Kapital natürlich lästigen, aber letztlich unumgänglichen Weg der Vernutzung von Lohnarbeit (W). Eine asset inflation (dazu sind auch die abenteuerlich gestiegenen Immobilienpreise zu zählen) macht noch lange keine Wertschöpfung. Wäre sich Piketty dieser grundlegenden Unterscheidung bewusst, müsste er auch seine Profitrate r anders konstruieren und sie wäre nicht konstant, sondern würde fallen, worauf bereits der britische Ökonom Michael Roberts aufmerksam gemacht hat.

 

Doch anstatt sich über das Wesen der kapitalistischen Reichtumsproduktion Gedanken zu machen, verstrickt sich Piketty in einen soften Malthusianismus. Der anglikanische Pfarrer Thomas Robert Malthus, autoritärer Stammvater des historischen Liberalismus, für den Piketty viel Verständnis zeigt (S. 16-18), hielt ein natürliches und ewiges Missverhältnis zwischen dem Bevölkerungswachstum und der Lebensmittelproduktion für Armut und Arbeitslosigkeit verantwortlich. Abhilfe böten Kriege, Hungersnöte und Seuchen. Piketty überrascht schon mit der Behauptung, Wachstum habe zwei Dimensionen, das Pro-Kopf-Wachstum der Produktion und das Wachstum der Bevölkerung (S. 105) und steigert sich  weiter in den Malthusianismus hinein: Das Bevölkerungswachstum beeinflusse „tiefgreifend“ die Struktur der Ungleichheit (S. 118), ein schwächeres Bevölkerungswachstum erhöhe „automatisch“ das Gewicht der in der Vergangenheit aufgehäuften Vermögen (S. 205, 220/221).

Hier werden alle Katzen grau. In der Vulgärökonomie wird die Bevölkerungskarte seit jeher auf zwei Arten gespielt: In ökologischen oder Verteilungsdebatten gibt es stets zu viele Menschen und die knappen Ressourcen reichen nie; wird hingegen der ausbleibende Aufschwung moniert, kann die auf Konsumnachfrage und billige Arbeitskraft reduzierte Menschheit gar nicht groß genug sein. Dabei besteht kein Zusammenhang zwischen Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum. Andernfalls müsste das subsaharische Afrika mit der höchsten Bevölkerungszunahme auch zu den am stärksten prosperierenden Weltregionen zählen.

Man fragt sich verdutzt: Warum sollte ausgerechnet eine schneller zunehmende Population angesichts eines Milliardenheers an – gemessen an den Verwertungsansprüchen des Kapitals – überflüssiger Bevölkerung die Wirtschaft wieder wachsen lassen? Hier rächt sich, dass Piketty im Gegensatz zu den Ökonomen, die Marx noch dafür kritisieren konnte, „im Elend nur das Elend“ zu sehen, überhaupt keine Vorstellung vom zeitgenössischen Leiden vermittelt und beispielsweise den Schmerz und Irrsinn, die die rund eine Milliarde Bewohner der über 250.000 Slums der Welt alltäglich über sich ergehen lassen muss, ignoriert. Ungleichheit ist nicht einfach nur Ungleichheit, sondern immer formvermittelt. Die Zeichen stehen auf Exklusion: In Zeiten von allgemeiner Prekarität, informellen Slum-Ökonomien, jobless recoveries und den höchsten Flüchtlingszahlen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist es besonders sinnwidrig und zynisch, ein abnehmendes Bevölkerungswachstum zu beanstanden.

 

Piketty fährt ähnlich krude fort: „Marx scheint die entstehende Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung völlig außer Acht gelassen zu haben“ (S. 304), und nennt in dem Zusammenhang den Namen Colquhoun, an anderer Stelle auch Petty, King und Quesnay. Natürlich kannte Marx diese Pioniere der Wirtschaftsstatistik sehr gut – Quesnays Tableau économique etwa bezeichnete er als den „genialste[n Einfall], dessen sich die politische Oekonomie bisher schuldig gemacht hat“ (MEGA II/3., S. 656) – und entwickelte deren Ansätze im zweiten Band des Kapital mit eigenen Reproduktionsschemata kritisch weiter.

Pikettys Vorbilder erhellen die Stoßrichtung seiner eigenen Kritik. Eine interessante Figur ist der schottische Statistiker Patrick Colquhoun, der vor gut 200 Jahren berechnete, dass nur rund ein Viertel der britischen Bevölkerung effektiv am Produktionsprozess beteiligt war und einen weit über die Subsistenz der Gesamtbevölkerung hinausgehenden „Totalwert“ generierte. Colquhoun war besonders bei den britischen Frühsozialisten der popular political economy der 1820er und 30er Jahre beliebt (zu diesem Begriff siehe David McNally). War die politische Ökonomie in den Augen der popular political economists eine Legitimationswissenschaft im Dienste der Bourgeoisie, bestrebt die Redundanz der working classes und die Notwendigkeit ihrer erbärmlichen Lage nachzuweisen, so drehten diese Kapitalismuskritiker vom Standpunkt der Arbeit den Spieß einfach um und argumentierten mit den Methoden, Zahlen und Konzepten der politischen Ökonomie für die Überflüssigkeit der Rentiers, Landeigentümer und Kapitalisten. Colquhouns Teilung der Gesellschaft in productive und unproductive classes fiel bei den Frühsozialisten, die „Unproduktivität“ als „Schädlichkeit“ deuteten, auf fruchtbaren Boden. Entgegen vieler Vorurteile hielt Marx – der sich mit Colquhoun und der popular political economy erstmals 1845 während einer Sommerreise nach Manchester und mit Quesnay kurz darauf beschäftigte, wie im in wenigen Wochen erscheinenden MEGA-Band IV/5 nachzulesen sein wird – die aus der Macht des Privateigentums resultierende Ungleichheit der Klassen nicht für das Kritikwürdigste am Kapitalismus, sondern vielmehr dessen versachlichte Herrschaft, die schon in der Wertform als borniert, blind, destruktiv und als äußerlicher Zwang erscheinend angelegt ist.

 

Piketty tappt nun in dieselbe politisch fatale Personalisierungsfalle wie seine Vorgänger und bedient sich einer Semantik des Parasitären. In seinem Buch wimmelt es von unrechtmäßigen Erben, „Supermanagern“, die sich „hemmungslos bedienen“ (S. 43), „wenig skrupulöse[n] Banken und Anlageberater[n]“ (S. 392) und Aktionären, die als „dickbäuchig“ (S. 40) und „feist“ (S. 297) verunglimpft werden. Das sind keineswegs nur rhetorische Entgleisungen, sondern konstitutive Elemente der Piketty’schen Kritik, die sich auf das Unproduktive, Verschwenderische und Abgehobene kapriziert. Alle diese Figuren eint, dass sie auf angeblich unseriöse Weise zu Reichtum gekommen sind, sprich: ohne die Mühen schweißtreibender Arbeit. Piketty hat keine Ahnung davon, dass die Kritik am arbeitslosen Einkommen und am Zins (S. 587) nicht nur grundsätzlich eine Sackgasse ist, sondern immer wieder auch in die verschwörungstheoretische Wahnvorstellung umzuschlagen droht. Seine Kritik vom ohnehin biederen Standpunkt der Leistung leistet dieser Vorschub. In seiner Apologie der Meritokratie hält er den bürgerlichen Idealen Arbeit, Gleichheit und Gerechtigkeit gesellschaftliche Verhältnisse entgegen, in denen Leistung sich nicht mehr lohnt. Dieser Standpunkt der Leistung ist Wasser auf die Mühlen der Kleinsparer, Häuslebauer und Montagsdemonstranten, die sich ihre Habseligkeiten durch ehrliche Arbeit erworben haben wollen und ihren Hass auf „die da oben“ für Welterklärung halten.

Vom meritokratischen Glauben beseelt, wiederholt Piketty alle Dogmen der linksliberalen Bildungssoziologie, wonach „mehr Bildung“ eine Wunderwaffe sei, um sowohl die Wirtschaft anzukurbeln, Ungleichheiten einzudämmen, Arbeitslosigkeit und Armut zu bekämpfen und die Gesellschaft auch noch auf eine „faire“, „leistungsgerechte“ Weise zu hierarchisieren (S. 405 u.a.). Eine Verwechslung von Ursache und Wirkung. Die Bildungsexpansion der 1960er Jahre war Ausdruck der historisch bislang einmaligen Integrationsfähigkeit des Kapitals, als in den Trente Glorieuses mehr und mehr höher Qualifizierte für die neuen Sektoren der späten Zweiten und beginnenden Dritten Industriellen Revolution benötigt wurden. Doch das System abstrakter Arbeit expandiert heute nicht mehr. Es ist daher eine Illusion, „mehr Bildung“ könnte die gegenwärtige Wirtschaftskrise lösen oder die Ungleichheit verringern – die Arbeitslosenraten unter der akademischen Jugend in den Mittelmeeranrainern sprechen Bände.

 

Dabei hat Piketty durchaus bittere Pillen im Angebot, die eigentlich als Antidot gegen derlei politizistische Illusionen wirken müssten. Entgegen des linken Lieblingsmärchens, eine neoliberale Clique aus Chicago hätte mit ihrer Propaganda den Rückbau des schönen Sozialstaats im Alleingang besorgt, belegt Piketty, dass die Staatsquoten des Zentrums gar nicht gesunken sind, sondern seit Jahrzehnten konstant rund die Hälfte der öffentlichen Budgets in die Sozialsysteme wandert, also wir es gar nicht mit einem böswillig zurechtgestutzten Staat, sondern schlichtweg mit der Nicht-mehr-Kompensierbarkeit einer sich ausbreitenden Verelendung zu tun haben. Doch Piketty kann sich nicht so recht entscheiden: Einerseits sei der Staat nicht schlanker geworden, andererseits klagt er doch über „Privatisierungen, die Liberalisierung der Wirtschaft und die Deregulierung der Finanzmärkte und der Kapitalströme“ (S. 184). Alles in allem entsteht eine eigentlich merkwürdige, aber doch sehr gewöhnliche Utopie von mehr Markt, mehr Bildung, mehr Mittelschicht sowie mehr Staat, mehr Steuern, mehr Arbeit und mehr Bevölkerungswachstum. Ein „mehr“ ausgerechnet an denjenigen Institutionen, die in der Krise stecken, sollen diese lösen können.

Das Buch ist somit überaus anschlussfähig für eine orientierungslose Restlinke, die schon seit geraumer Zeit den Konjunkturlaunen des Weltmarktes auf antizyklische Weise hinterhertaumelt. War nach dem Zusammenbruch der Modernisierungsdiktaturen unter staatssozialistischer Flagge das Geschrei nach „mehr Markt“ groß, so wird spätestens seit der Lehman-Pleite 2008 im Schwermut der Fordismusnostalgie erneut nach dem Staat gerufen, der den entfesselten Finanzsektor bändigen und die Märkte wieder einbetten möge. Da Piketty das Wesen der kapitalistischen Reichtumsproduktion verkennt, sind seine Steuerpläne selbstredend für die Katz. Jede Steuer setzt zuvor produzierten, besteuerbaren Wert voraus. Genau dies ist der Großteil der Vermögen des 21. Jahrhunderts aber nicht. Sicherlich gäbe es hier und da etwas zu holen, jedoch nimmt der besteuerbare Wert mit fortschreitender Verdrängung der Arbeit aus dem Produktionsprozess ab; Pikettys ohnehin nicht gerade üppiger „Sozialstaat für das 21. Jahrhundert“ scheitert damit schlichtweg an der Finanzierbarkeit.

Der Kapitalismus befindet sich in seiner schwersten Krise seit 1929. Wenn höhere Steuern den Akkumulationsmotor tatsächlich wieder anschmeißen würden, warum wurden sie dann nicht längst erhoben? Eben weil es „Geld ohne Wert“ (Robert Kurz) ist, das – als Scheinkompensation für eine lahmende reale Verwertung des Kapitals – sein Unwesen auf den Finanzmärkten treibt: Allein in den USA haben sich die im Umlauf befindlichen Finanzmittel durch Zentralbankprogramme wie das soeben beendete Quantitative Easing der Fed seit 2009 von 1.000 auf 4.000 Milliarden Dollar vervierfacht. Machte man sich tatsächlich an die Umverteilung der Früchte dieser Blasenökonomie, würde dieser Schwindel sofort in Form einer Inflation auffliegen, die derzeit ja nur deshalb ausbleibt, weil die Kohle ausschließlich durch die Bilanzen der Privatbanken spukt und für Glückszustände auf den Börsen dank historischer Rekordwerte der Leitindizes sorgt.

So ist Pikettys Kapital vor allem von zeitdiagnostischem Wert, weil es – ohne darum zu wissen – eine vom Tropf des Kapitals abhängige Welt in einer Zeit der abflauenden Dynamik des Kapitals und einen Kapitalismus mit immer geringeren Integrationspotentialen skizziert. Der Aufstieg durch Arbeit ist in einer Gesellschaft, der die Arbeit ausgeht, tatsächlich immer seltener möglich, was Anlass böte, „über die Abschaffung des Lohnsystems zu reden, ohne als weltfremder Spinner dazustehen“. Piketty verwechselt aber eine Erscheinungsform mit dem Wesen des Kapitalismus. Auch der von ihm beschriebene statische finanz- und immobilienoligarchische Rentenkapitalismus des 21. Jahrhunderts bleibt immer noch Kapitalismus, in dem die von Marx analysierten grundlegenden Bewegungsgesetze nicht außer Kraft gesetzt sind.

Wem bislang noch nicht aufgefallen war, dass die Armen ärmer und die Reichen reicher werden, den werden wohl auch Pikettys Zahlen kaum beeindrucken. Wer die Meritokratie für eine gute Ordnung hält oder sowieso davon überzeugt ist, dass der Zugang zum im Überfluss vorhandenen stofflichen Reichtum von schon immer falschen, aber heute anachronistischer denn je gewordenen Werten wie Leistungsbereitschaft, Tüchtigkeit oder Arbeitswillen abhängig sein soll, wird hier einen Bündnispartner finden. Dabei müsste es im Gegenteil darum gehen, das Überflüssige als Bedingung von Freiheit zu stärken und es endlich von Armut, Not und Elend zu entkoppeln.

 

Timm Graßmann lebt in Berlin und arbeitet für die Marx-Engels-Gesamtausgabe.

Weiteres zu unserem Piketty-Buchforum sowie die bisher erschienenen Beiträge sind hier nachzulesen.

8 Kommentare zu “Piketty-Buchforum (5): Marx is just a four letter word

  1. Timm,

    vielen Dank für diesen herrlich pointenreichen Beitrag! Leider bin ich weit davon entfernt, ein Marx-Experte zu sein und das alles kompetent kommentieren zu können, würde aber trotzdem gerne einen Punkt deiner Argumentation herausgreifen und weiter diskutieren: nämlich die von dir thematisierte Anschlussfähigkeit des Piketty-Verkaufsschlagers „für eine orientierungslose Restlinke, die schon seit geraumer Zeit den Konjunkturlaunen des Weltmarktes auf antizyklische Weise hinterhertaumelt.“

    Adorno hat in seinem „Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag“ von 1968, also wenige Jahre vor dem Ende der sogenannten „Trente Glorieuses“, gesagt: „Die Macht der Produktionsverhältnisse, die nicht umgewälzt wurden, ist größer als je, aber zugleich sind sie, als objektiv anachronistisch, allerorten erkrankt, beschädigt, durchlöchert. Sie funktionieren nicht mehr selbsttätig. Der wirtschaftliche Interventionismus ist nicht, wie die ältere liberale Schule meint, systemfremd aufgepropft, sondern systemimmanent, Inbegriff von Selbstverteidigung; nichts könnte den Begriff von Dialektik schlagender erläutern.“ Folglich setzte mit dem „embedded liberalism“ der Nachkriegszeit schon eine „Selbstverteidigung“ des Kapitals ein, die – will man Adornos und auch deiner Argumentation treu bleiben – mit der neoliberalen Wende der 70er und 80er Jahre die neue Form einer Liberalisierung und Entgrenzung der Kapitalmärkte angenommen hat: eben aufgrund der von dir angeführten, allgemein abnehmenden Dynamik des Kapitals. Die „Präponderanz der Produktionsverhältnisse über die Produktivkräfte“ besteht noch immer, nur ist – könnte man meinen – die Herrschaft des abstrakten Tauschprinzips mittlerweile noch beschädigter als zu Adornos Zeiten.

    Du hast m.E. mit Recht darauf hingewiesen, dass die Rezepte der „orientierungslosen Restlinken“ gegen die wachsende Ungleichheit (höhere Steuern, mehr Bildung etc.) angesichts der fortgeschrittenen „Verdrängung der lebendigen durch tote Arbeit“ und der daraus folgenden bloßen Reichtumsblasen seltsam anachronistisch, wenn nicht gar selbstzerstörerisch daherkommen. Und ja: Die Renaissance des ökonomischen Linksliberalismus wirkt hierzulande manchmal so, als wollte man mit dem Time-Shuttle auf schnellstem Wege zurück in die gute alte Bonner Republik. Gegen diesen meritokratischen Konservatismus wendest du ein, es sei vielmehr höchste Zeit, „das Überflüssige als Bedingung von Freiheit zu stärken und es endlich von Armut, Not und Elend zu entkoppeln.“ Stellt sich die wichtige Frage: Wie stärkt man das Überflüssige als Bedingung von Freiheit? Anders formuliert: Gibt es aus deiner Sicht in Ansätzen schon Wege, den wahrlich durchlöcherten Produktionsverhältnissen unserer Zeit etwas entgegenzusetzen, ohne damit die Freiheit aufs Spiel zu setzen?

  2. Die Krisen werden seit den Zeiten des Goldstandards einfach von der Geldpolitik der Notenbanken inszeniert, um die Löhne und Preise zu drücken. Das ist von den Marxisten aber nett, dass sie das nicht kritisieren wollen, wenn die Kapitalisten ganz absichtlich Millionen erwerbslos auf die Straßen werfen, damit sie diese Menschen härter ausbeuten können.

    Die Krisen wurden alle von der Geldpolitik erzeugt und es braucht nur eine andere Geldpolitik wie ab 1933, um die Krisen zu überwinden. Es ist sogar noch einfacher, denn man muss nur mit dem Sparen aufhören und darf nicht, wie damals in den USA 1937 noch mal den Haushalt ausgleichen wollen. Die echten Keynesianer wissen, wie es geht, aber werden von den Marxisten im Sold des Kapitals bekämpft.

    Die Marxisten fallen dabei den arbeitenden Menschen in den Rücken, erklären die höhere Besteuerung der Reichen für nicht machbar, weil die doch nur fiktives Kapital besitzen würden. Die Marxisten fordern nicjht eine expansive Geldpolitik und ein Ende der Lohndrückerei und des Sozialabbaus durch die absichtlich mit restriktiver Geldpolitik verursachte Massenarbeitslosigkeit.

    Die Marxisten fabulieren stattdessen von der Weltrevolution, die mit diesen Marxisten bestimmt niemals kommt, weil sie schon heute die Arbeiter verraten und damit sogar noch Karrieren im Kapitalismus machen können.

    Marx war ja mit der kleinen Schwester des preußischen Innenministers Ferdinand von Westphalen verheiratet. Seine Anhänger versuchen immer noch, ihn irgendwie zu übertreffen.

  3. Lieber Timm Graßmann, herzlichen Dank, ich halte das für einen sehr eleganten und nützlichen Text, der die bisher diskutierten (naja, vorgestellten, weniger sichtbar* diskutierten) Perspektiven in gleich zwei grundlegenden Dimensionen ergänzt, Pikettys Marx-Rezeption und der Unterscheidung von Kapital und Vermögen!
    Zur ersteren Dimension will ich außer Zustimmung nichts anmerken, zur letzteren aber doch in Fortsetzung von schon in diesem Forum Gesagten knapp nur so viel: Mir ist die nominalistische Unterscheidung von Kapital als Aneignung und Vermögen als Kredit theoretisch-schulbuchmäßig durchaus einsichtig (wenngleich auch meines Wissens Marxens Bände des „Kapitals“ außer Polemik zum Kreditproblem nicht viel zu sagen haben, wiewohl sie fraglos das Problem, dass der Kreditgeber ein sehr viel existenzielleres Interesse an der Lebendigmachung seines „toten Kapitals“ durch Zinskreditvergabe hat als der Kreditnehmer, theoretisch bereits knapp erfassen und stellenweise schön formuliert haben).
    Was ich aber nicht recht begreife, ist, ob diese Definitionen heute so tragen. Nur ein Beispiel zur konkreten Veranschaulichung: Die berüchtigte Merkel-Steinbrück-Garantie vom Herbst 2008, das fraglos nur als Kredit/Vermögen deutscher Kleinsparer denkbare Anlagekapital sei bis zu einer gewissen Grenze staatlich garantiert und mithin gesellschaftlich versichert. Ist das nicht ein Sprechakt, der mir nichts, dir nichts aus fiktivem Vermögen echtes Kapital macht? Denn abgesehen davon, dass diese Garantie ja der Reduzierung von Marktunruhen durch Kleinanlegernervosität dienen sollte, ist doch im Hintergrund dieser Regierungsansage das Versprechen auf immer bloß zukünftig zu schaffendes Kapital als (durch Ausbeutung oder nicht zu generierendem) Gegenwert gegenwärtiger Buchungswerte verzaubert worden durch Rückbindung an staatliches Realkapital (Grundstücke, Kunstwerke, Bauten etc.) oder wenigstens an volkswirtschaftliche Kompensationsversprechen.
    Wie auch immer, das soll nur ein Beispiel sein, eines aber, von dem ich den Eindruck habe, dass es für das Denken Pikettys (nicht unbedingt für seine ja geharnischt niedergeschriebene Argumentation) eine gewisse Rolle spielt. Denn im Vorgang dieses Beispiels liegt doch die von Herzog u.a. hier im theorieblog schon andiskutierte Frage, inwiefern Piketty sich sehr wohl oder gerade nicht im Klaren ist, dass in diesem Fall souverän ist, wer über die Frage, was Eigentum ist und was Vermögen, entscheidet. Andernfalls, meine ich, könnte die in Pikettys Buch doch so dominante Enteignungsfrage nicht als bloße Vernichtungsfrage fiktiven, eigentlich toten Kapitals (vulgo: Vermögen) reformuliert werden, in einer Art und Weise also – und hier möchte ich Ihrem Text, lieber Timm Graßmann, nochmals völlig beipflichten –, die sich düster benachbarter Ressentiments gegen das „Finanzkapital“ der „da oben“ bedient, aber nicht erläutert, warum damit gerade nicht zugleich jeder noch so popelige „Riestervertrag“ gleichermaßen gemeint sein soll. Denn die rechnerische Verschiebemasse an den Geldmärkten ist ja theoretisch nicht zwischen Finanzkapitalvermögen und des deutschen Rentenkleinsparers Quasisparbuch unterschieden, im faktischen Ernstfall aber doch durch den Unterschied, dass „Riestern“, um mal nur dieses Beispiel zu bedienen, staatlich rückversichert ist. Sollte dem näherungsweise so sein, würde zwar auch vieles von dem, was Sie schreiben, plausibel sein, dadurch aber nicht unbedingt Piketty grundsätzlich widersprechen, sondern nur dessen so peinlich auf rhetorische Floskeln setzende Strategie einmal mehr verdeutlichen – eine Strategie im Übrigen, die dann aber nicht nur als getarnte Unterscheidung von Kapital und Vermögen in unsere Diskussion übersetzt gehörte, sondern zusätzlich als Unterscheidung zwischen staatlich gewolltem „guten“, weil kapitalistisch produktivem oder wenigstens nicht schädlichem Vermögen auf der einen Seite (Klein- und Familiensparer, Altersabsicherung, Mittelstand, Grundbesitz etc.) und „bösem“, gewissermaßen aggressiv neofeudalistischen Vermögen auf der anderen Seite.

  4. * „sichtbar“ heißt: Meiner Erfahrung nach reagieren (zu) viele von denen, die auf Texte und Kommentare dieser Rubrik reagieren, unnötig anonym. Heißt: Vielleicht schreibt ihr/schreiben Sie lieber für alle LeserInnen sichtbar hier im blog und in den Kommentarfeldern und etwas weniger direkt nur exklusiv an die AutorInnen via Mail. Letzteres ist oft sicher sehr nett gemeint und interessant. Dennoch könnte auch eine gelungenere Diskussion und größere Perspektivenvielfalt durch offenere Kommunikation zustande kommen, immerhin veröffentlichen die AutorInnen ja auch, was sie denken 😉

  5. Laut dem Kommentierenden Waldner war Marx also ein Agent der preußischen Regierung mit dem Auftrag, die Arbeiterklasse durch eine besonders komplizierte und falsche Theorie zu spalten. Natürlich sei das alles „noch einfacher“, „hinter“ den Krisen stecke allein die böse Absicht der Zentralbanken. Ich vermute hier die böse Absicht Waldners, der sicherlich auch ganz genau weiß, wer „hinter“ den Zentralbanken steckt.

    Sein lesenswerter Lebenslauf spart allein die schmutzige Frage aus, wie es dem Herrn Waldner gelingt, seine Arbeitskraft erfolgreich an den Mann zu bringen. Sollte Waldner im Allgäu auf eine zur Wertform alternative Reproduktionsmöglichkeit gestoßen sein, möge er darüber bitte mitteilen.

    Auf seiner Homepage bindet er einen bemerkenswert bunten Strauß an Video-Verlinkungen zusammen: Hier tummeln sich Fed-Kritik, Putinsympathie, „WTC was an inside job“ und Vorträge des seriösen Keynesianers Stephan Schulmeister, dessen Hauptthema (zumindest in seinen taz-Artikeln) sein Unverständnis über den für ihn grundlos über die Welt hereingebrochenen Neoliberalismus ist und der nicht einsehen mag, dass die Regierungen allerorten mit Bankenrettungen, Konjunkturprogrammen, Staatskredit und expansiver Geldpolitik in der Krise dezidiert keynesianische Maßnahmen ergriffen haben, um den ganz großen Kladderadatsch noch einmal aufzuschieben. Waldners Blumen sind vergiftet und zu einer logischen, wenn in dieser Drastik auch selten gesehenen Auswahl komponiert, die bestens illustriert, welche Verfallsgestalt der heutige Keynesianismus angenommen hat und welche Tendenzen Piketty hierzulande anzieht. Man könnte das Kind auf den Namen „Deutschkeynesianismus“ taufen.

    Wie das Überflüssige stärken? Es ist doch eigentlich eine so schöne wie greifbare Freiheitsutopie: nicht nützlich sein zu müssen, nicht gebraucht zu werden, auf keinen Zweck reduziert zu sein. Die gesellschaftlichen Verhältnisse dementieren das heftig, denn Überflüssigkeit wird mit Hartz-IV-Terror, einer prekären geisteswissenschaftlichen Anstellung, Rikscha-Fahren und dem alltäglichen Extremfall des Absaufens vor Lampedusa gnadenlos bestraft. Diese gigantische Kluft zwischen Potentialität und Realität müsste man zunächt einmal begreifen (wozu Adornos Soziologentagsvortrag ein eindeutig besserer Ausgangspunkt als Piketty ist, welcher nur tiefer in das fetischistische Denken hineinführt), statt die eigene reale oder potenzielle Überflüssigkeit als Projekthuberei und Pseudoproduktivität abzufeiern und das eigene Scheitern als Erfolg zu verkaufen. Dieses Begreifen dürfte den Markt nicht länger als die tolle Möglichkeit der Wahl aus dem bunten Warensortiment auffassen, sondern als einen einzigen Zwang, sich verkaufen zu müssen, um überleben zu können. Einerseits sind wir darauf reduziert Lohnarbeit zu leisten, andererseits können wir nicht einmal lohnarbeiten und ordentlich im „Sold des Kapitals“ (Waldner) stehen, weil wir durch die Lohnarbeit die Bedingungen unserer Lohnarbeiterxistenz zunehmend unterminiert haben.

    Insofern ist die zu lösende Aufgabe eine simple: Einsatz der in überreichem Maße vorhandenen menschlichen Fähigkeiten, Naturstoffe und Betriebsmittel auf eine Weise, die allen ein Leben frei von Armut und Hunger gewährleistet, sowie Umsetzung der durch die Produktivkräfte gewonnenen Zeitfonds in Muße bei gleichzeitiger Zurückschlagung des „Reichs der Notwendigkeit“ (das müsste so ähnlich Bobby Kurz irgendwo vorgeschlagen haben). Beides ist mit den gegenwärtigen Institutionen nicht zu machen. Auch wenn eine Aufhebungsbewegung weit und breit nicht in Sicht ist, bedeutet das nicht, dass man die Waffen strecken soll. Es gibt genügend sympathische Anliegen und unterstützenswerte Kräfte.

    Wenn ich Sebastian Huhnholz richtig verstehe, wirft er die Frage nach dem Staat auf, auf dessen Seite er als guter Politologe zu stehen scheint. Kann der Souverän nicht durch performative Zaubersprüche je nach Lust und Laune das Kapital gewissermaßen aus dem Hut ziehen? Sicherlich kann Vater Staat so einiges: die Grenzen militarisieren, „Illegale“ abschieben, den Notstand verwalten, entscheiden, ob wir 12 oder 13 Jahre die Schulbank drücken sollen. Jedoch ist seine formelle Unabhängigkeit teuer durch eine materielle Abhängigkeit erkauft, was zumindest jeder Wirtschaftspolitik enge Grenzen setzt. Kein Staat ohne gelungene Akkumulation – dem failed state geht die failed economy voraus.

    Huhnholz vergisst, dass die Grundlage des deutschen Geschäftsmodells nicht das Riestern ist, sondern die Ausfuhr von Autos, Waffen und Werkzeugen, mit denen sich auch einige Widersprüche exportieren und abwälzen lassen. Anlagekapital lässt sich leicht garantieren, wenn man (durch die Exportmaschine „gesellschaftlich rückversichert“) als sicherer Hafen auf stürmischen Finanzmärkten gilt. Was, wenn die spanische Regierung zum gleichen Zeitpunkt erklärt hätte, eine Überproduktion im Immobiliensektor habe nicht stattgefunden, die Einnahmen aus Hypotheken und Mieten seien sicher? Was Wert ist und was nicht, wird auf dem Weltmarkt entschieden, dessen Bedingungen der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ (Marx) in einem gewissen Maße beeinflussen, deren Gesetze er aber nicht aushebeln kann.

    Marx‘ Kredittheorie würde ich nicht voreilig verabschieden, auch wenn sie sicherlich eine offene Baustelle ist und erst vom hierüber mächtig fluchenden Engels als immerhin knapp 300 Seiten umfassender 5. Abschnitt des 3. Bandes des „Kapital“ veröffentlicht wurde. Dass Marx zur Kreditfrage „nicht viel zu sagen“ hatte, halte ich für ein Gerücht. Meiner Meinung nach finden sich in seinem Werk die grundsätzlichen Bestimmungen aller Finanzformen, mit denen wir uns heute herumplagen. Das mag komisch und anmaßend klingen, in der Physik würde ja auch niemand mehr Newton lesen, aber wir sind seit Marx in der Analyse des Kapitalismus einfach keinen Schritt vorangekommen.

  6. Sehr geehrter Timm Graßmann, besten Dank auch für diese Antwort! Den ersten Punkt lasse ich Ihnen, da Sie ihn einerseits schon konditionieren („wenn ich richtig verstehe…“) und ich den zweiten Teil nicht verstehe, also diesen Part mit „guter Politologe“ (danke?) auf der „Seite des Staates“ (ähm, und wenn, und wenn nicht, und warum, und warum nicht…, was ändert das an meiner Frage?).
    Den teils polemisch wirkenden Abschnitt danach erfasse ich aus anderen Gründen nicht, er scheint aber in die Richtung zu gehen, die ich tatsächlich erfragen wollte, nämlich inwiefern die auch von Ihnen genutzte, theoretisch strenge (so meinte ich den Begriff „nominalistische“) Unterscheidung von „fiktivem“ Kapital („Wucherkapital“ muss das dann wohl gemessen an den von Ihnen dankenswerterweise nochmal konkret genannten „Kapital“-III/5-Passagen heißen) und „realem“, also auf Ausbeutung von Arbeit basierendem Kapital nicht staatsseitig jederzeit manipuliert werden kann. Verstehe ich Ihre stark ironisierende und daher mir nicht hinreichend eindeutige Antwort richtig als: Ja, trifft schon zu…?
    Wenn wir uns jedenfalls auf dieser Ebene träfen, wäre, denke ich, für die Frage nach Denkmodellen durchaus etwas gewonnen, und auf derlei Denkmodelle habe ich meine am ausdrücklich als solchem deklarierten „Beispiel“ der „Riesterrente“ ja fokussiert (wollte das jedenfalls tun; tut mir leid, wenn’s unverständlich blieb), habe nämlich auch Sie mit Ihrer Expertise gefragt, ob und inwiefern Sie bei der Lektüre Pikettys beobachten, dass er annimmt, dass „der Staat“ auf die zunächst ja nur definitorische Unterscheidung von fiktivem und realem Kapital einen enormen Einfluss hat, nämlich (in gewissen Rahmen sicher) „fiktives“ Kapital durch einen Sprechakt („Ihre Anlagen sind bis zu x Euro sicher“) in „reales“ überführen kann?
    Ich führe das mal besser nicht nochmals aus, will eigentlich nur fragen, ob nicht, wenn eine so nominalistisch-theoretische und anscheinend recht streng materialistisch-dogmatische Unterscheidung wie die zwischen fiktivem und realem Kapital durch einfache politische Sprechakte schon relativiert werden kann, daraus etwas hinsichtlich der Aussagefähigkeit der Theorie folgen müsste. Da helfen mir, mit Verlaub, Ihre „Und wenn nun aber in Spanien x und y z machen…“-Gegenfragen nicht aus, denn auf ein konkret argumentierendes, historisch dokumentiertes und vielleicht (vielleicht!) ja erfolgreiches Beispiel, das auf die theoretische Glaubwürdigkeit einer Annahme zielt, mit einer rhetorischen Frage zu reagieren, die auf einen fiktiven (?) und andernfalls (?) doch nur logisch (?) gescheiterten (?) Imitierungsversuch (?) Bezug nimmt, verstehe ich als Ironie, geschenkt, okay, nicht aber als Argument.
    Also, nochmals zugespitzt auf mein zugegebenermaßen kaum minder populäres, weil Allerweltsbeispiel der Merkel-Steinbrück-Inszenierung: Wenn Merkel Marx durch die bloße frohe Botschaft: „Dies ist jetzt echtes Kapital, jenes aber nicht“ in Verlegenheit bringen kann, müssen wir eben klären, ob die Person falsch liegt oder etwas theoretisch hinkt bzw. nicht generalisiert, sondern spezifiziert werden muss – und zwar zugunsten der theoretischen Kohärenz, die nicht gewährleistet wird, wenn man einfach behauptet, Marx müsse Recht haben, weil er eben Recht hat, weil die Nachfolger halt nicht mehr Recht haben usw. Ich sehe einfach nicht, wie solch ein Dogmatismus helfen soll, einen „Schritt“ voranzukommen..
    Nicht notabene also, dass ich etwas gegen Theorie und die damit geleistete Abstraktion der Empirie zum Generellen hätte. Mein (womöglich ja durch sachliche/re Aufklärung behebbares) Unverständnis bleibt derzeit aber, warum überhaupt Piketty (wie Merkel…) meint, eine staatliche Unterscheidung von – wie gehabt pointiert: gutem/nützlichen und schlechtem/unnützen Kapital in Gestalt von Schonung auf der einen Seite und vernichtender Besteuerung auf der anderen Seite löse das von ihm beschriebene Problem, wohingegen Sie ja ganz offensichtlich nicht nur persönlich anderer Ansicht sind, sondern auch theoretisch nicht durchgehen lassen wollen, dass eine derartig politisch gesetzte Unterscheidung überhaupt möglich ist, und nur auf letztere Fragwürdigkeit zielte mein „Riester“-Beispiel. Beste Grüße, SH

    P.S. Hansls Frage war übrigens doch schick, also bitte…

  7. Sehr geehrter Herr Graßmann,

    wenn ich Piketty richtig verstanden habe, ist das Ziel der von ihm eingebrachten Kapitalbesteuerung nicht die Finanzierung des (Super)Sozialstaates, wie von Ihnen dargestellt. Piketty schlägt die Kapitalsteuer erstens für Tranzparenz vor und zweites für ein Entgegenwirken bzgl. der stetig gewissemaßen aus sich selbst heraus wachsenden Topvermögen.
    Ich würde mich freuen, wenn Sie sich in dem Punkt näher erläutern würden, warum die von Piketty vorgeschlagnenen Formen des Kapitals/Vermögens sich aus Ihrer Sicht nicht besteuern lassen.

    Vielen Dank,
    Jean

  8. Schade, dass diese interessanten Kommentare nicht weitere angeregt haben. Sollte es am fehlenden Mut liegen, die Hürde der Beantwortung der darin gestellten interessanten Fragen zu überwinden? Wenn ja, dann ebenfalls: Schade! Beim genaueren Besehen der Hürde, ist diese nur scheinbar schwer überwindbar. Sie ist mit den (eigenen) Aussagensätzen gebildet, in denen bestimmte Wort als Begriffe verwendet werden, ohne Auseinandersetzung damit, welches Begriffene mit ihnen ausgedrückt wurde und wird. Es fehlte also an Mut zum Eingeständnis, diese (eigene) Hürde, aus welchen Gründen auch immer, nicht selbst beseitigt zu haben, sondern sie als schwer überwindbar (ver-)stehen zu lassen. Die beigefügten Attribute („fiktiv“, „echt“) wiesen ja auf die Schwierigkeit des Überwindens der Hürde hin, die Frage nach unterschiedlichen Eigenschaften von „Kapital“ beantworten zu können. Doch diese Hürde wird dadurch aufgestellt, wenn „fiktives Kapital“, „echtes Kapital“ in Aussagensätzen als Begriffe verwendet wird, als wäre das Wort „Kapital“ nur mit Attributen als Begriff (mit diesen Attributen unterschiedlich Begriffenes) zu verstehen. Marx verwendet das Wort „Kapital“ als Begriff, verwendet es also zum Ausdrücken eines begriffenen, zu begreifenden charakteristischen Merkmals mannigfacher, auch als Eigenschaften verstandener Erscheinungen.

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