Wiedergelesen: Intoleranz ist Toleranz ist Intoleranz: Herbert Marcuses „Repressive Toleranz“

Wiedergelesen-Beitrag zu: Marcuse, Herbert (1984 [1965]): Repressive Toleranz. Mit einer Nachschrift von 1968. In: Herbert Marcuse Schriften. Band 8. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 136-166.

 

Die „Frankfurter Schule“ wird in der Klassikerrezeption oft auf Adorno und Horkheimer reduziert. Dabei wird verkannt, dass mit Herbert Marcuse ein ebenso engagierter Intellektueller die Kritische Theorie entscheidend mitprägte. Marcuses dezidiert politische Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen machen seine Wichtigkeit für die Kritische Theorie aus. In der Verknüpfung aus theoretischer Reflexion und politischem Engagement unterscheidet sich Marcuse erheblich von gegenwärtigen TheoretikerInnen; diese suchen vor allem fachwissenschaftlichen Auseinandersetzungen und greifen nur noch selten als kritische Intellektuelle in die öffentlichen Debatten ein.

Ich will mich in die inhaltliche Auseinandersetzung mit Marcuses aufwirbelndem Essay „Repressive Toleranz“ aus dem Jahr 1965 begeben. Toleranz, so meine These im Anschluss an Marcuse, kann nur als ambivalenter Begriff für Theorie und Praxis verstanden werden. Während Toleranz theoretisch zwischen Verschleierung und Wahrheit pendelt, bewegt sie sich in der Praxis zwischen Duldung und Emanzipation (siehe Abb.1).

Abbildung 1: Toleranz als Ambivalenz

  Theorie Praxis
(repressive) Toleranz Verschleierung Duldung
(parteiliche) Toleranz Wahrheit Emanzipation

 

Ich werde nachfolgend aufzeigen, dass zwar alle vier Dimensionen des Toleranzbegriffs bei Marcuse zur Sprache kommen, aber auch argumentieren, dass deren jeweiliges Verhältnis für die Theorie und Praxis bei Marcuse nicht abschließend geklärt ist. Schließlich werde ich zeigen, weshalb parteiliche Toleranz ohne repressive Toleranz nicht zu denken ist. Doch zunächst zum historischen Hintergrund des Essays.

Marcuse zwischen Berkeley und Berlin

Das Essay „Repressive Toleranz“ ist den Studierenden der Brandeis University gewidmet. Ein Grund könnte sein, dass 1965 die Brandeis University den Lehrauftrag von Marcuse nicht verlängerte und das Essay sowohl ein impliziter Abschiedstext ist als auch möglicherweise auf die ersten studentischen Proteste reagiert. Marcuse stand den studentischen Protesten in den 1960ern im allgemeinen positiv und befürwortend gegenüber; im Gegensatz zu seinen Kollegen Adorno und Horkheimer, die sich von den Aktionen der linken Studierenden an der Frankfurter Uni distanzierten. Dies ist ein Grund für den Bruch zwischen Marcuse auf der einen und Adorno und Horkheimer auf der anderen Seite. Marcuse reiste während der 60er Jahre viel durch die USA und Westeuropa, um als Referent auf Konferenzen – z. B. als Hauptredner des SDS-Vietnam-Kongresses 1966 in Frankfurt a. M. – zu sprechen. Er verband seine Rolle des kritischen Theoretikers mit der politischen Überzeugung, dass sich radikale Kritik in radikale Praxis umsetzen lässt – ohne jedoch von der proletarischen Revolution oder gar orthodox-marxistisch von der „Diktatur des Proletariats“ zu schwärmen. Marcuse wurde damit zum Paradetheoretiker des „westlichen Marxismus“ (Perry Anderson) und zum impliziten Mentor der protestierenden Studierenden. Diese wandten sich in ihrem Protest gegen die verkrusteten Verhältnisse in Politik und Gesellschaft des „Spätkapitalismus“ und den anhaltenden Krieg in Vietnam. Sie traten aber ebenso für die Emanzipation der Frau und den antikolonialen Widerstand im „Trikont“ ein. Doch wie hängt diese spezifische geschichtliche Konstellation mit dem Toleranzbegriff zusammen?

Toleranz zwischen Verschleierung und Wahrheit

Toleranz, so Marcuse, sei im eigentlichen Sinne als Intoleranz und Parteilichkeit zu verstehen. Die bloße Duldung meines Gegenübers oder die Akzeptanz von divergierenden Ideen zeichne nicht Toleranz aus, sondern gerade die Ablehnung einer nahezu beliebigen Duldung von Positionen und Standpunkten zugunsten einer klar erkennbaren Position (siehe unten). Die Idee der völligen Unparteilichkeit etwa in der Öffentlichkeit suggeriere, dass Sachverhalte neutral behandelt werden könnten. Oder wie Albert Scharenberg dazu den Drehbuchautoren Aaron Sorkin (The West Wing) im Jahr 2012 zitiert: „Wenn morgen sämtliche Republikaner im Kongress behaupteten, die Erde sei eine Scheibe, sagt Sorkin, würde die „New York Times” am nächsten Tag titeln: ‚Demokraten und Republikaner uneins über Form der Erde‘“.

Marcuse lehnt so einen neutralen Toleranzbegriff kategorisch ab und bezeichnet ihn als ideologische Verschleierung und „repressiv“. In der vermeintlichen Neutralität der Darstellung durch Politik und Medien zeige sich vielmehr die repressive Toleranz gegenüber Alternativen. Die Repression greife sobald die Grenze des Sagbaren und Nicht-Sagbaren durch alternatives Denken überschritten werde; bleibt die Kritik hingegen im bestehenden gesellschaftlichen Rahmen, könnte sie im öffentlichen Diskurs toleriert werden. Es kommt durch die Grenzziehung und die vermeintlich neutrale öffentliche Darstellung zur Verschleierung der wirklichen Machtverhältnisse und der Behauptung, dass „niemand, ob Gruppe oder Individuum, im Besitz der Wahrheit“ ist (S. 145). Marcuse setzt der herrschenden repressiven Toleranz eine parteiliche Toleranz gegenüber.

Im Gegensatz zur repressiven Toleranz ist die parteiliche Toleranz die Negation des Bestehenden, um Alternativen denken zu können. Damit betont Marcuse den emanzipatorischen Aspekt der Toleranz. Parteiliche Toleranz ziele auf die Freiheit und Selbstbestimmung der Individuen jenseits von Herrschafts- und Machtpraktiken und müsse gegen die repressiven Mechanismen gewendet werden: „Die Toleranz, die Reichweite und Inhalt der Freiheit erweiterte, war stets parteilich intolerant gegenüber den Wortführern des unterdrückenden Status quo.“ (S. 139). Toleranz ist nach Marcuse vielmehr die Freiheit des Denkens mit dem Ziel der Wahrheitsfindung durch einen offenen gesellschaftlichen Diskurs.

Marcuse insistiert mit seinem Wahrheitsbegriff darauf, dass Individuen fähig sind, Wahrheit zu erfahren, weil sie fähig sind über das Bestehende hinaus nachzudenken. Bleibt das Denken im Bestehenden verhaftet, ist es nicht frei. Dadurch, dass sich Menschen ihres eigenen Verstandes rational bedienen, werden sie zu Subjekten, welche reflektieren und kritisieren können, und nach Freiheit und Selbstbestimmung streben. Weil die Menschen nach Marcuse also rational denken und frei handeln sollen, ist es ihre Aufgabe sich die Wahrheit und damit auch die parteiliche Toleranz zu erschließen, denn „[d]as Telos der Toleranz ist Wahrheit“ (S. 142). Nach Marcuse beinhaltet die Wahrheitsfindung zwei Seiten der Kritik: Die wahrheitsbezogene Kritik scheut sich zum einen nicht, normativ zu sein, weil sie für sich in Anspruch nimmt, Kritik dort zu äußern, wo sie etwas als falsch erkennt. Sie verspricht zum anderen aber keine „Insel der Glückseligkeit“ und  keine Handlungsanweisung zu einem besseren Leben, sondern schöpft ihre potentiell verändernde Kraft aus der Ablehnung des Bestehenden.

Während Marcuse also die repressive Toleranz als herrschaftsstabilisierend ansieht, welche die Herrschenden zur Verschleierung der Machtverhältnisse nutzen, ist es die parteiliche Toleranz, die subversive Kraft hat. Mit dem Ziel der Wahrheit wird die parteiliche Toleranz zur Anprangerung bestehender Verhältnisse genutzt und auf vernünftiges und freies Denken insistiert. Nachdem ich die theoretische Ebene des Toleranzbegriffes in Verschleierung und Wahrheit unterschieden habe, werde ich nun die praktische Ebene des Toleranzbegriffs erörtern. Auf dieser lässt sich die repressive Toleranz als Duldung und die parteiliche Toleranz als Emanzipation verstehen.

Duldung oder Emanzipation

Die praktische Seite der Toleranz zielt auf der Ebene der repressiven Toleranz auf die ubiquitäre Duldung der bestehenden Herrschafts- und Machtverhältnisse durch die Menschen. Hier wird etwa die „Kulturindustrie“ (Horkheimer/Adorno) als freie Sphäre des Konsums gepriesen, Ungerechtigkeiten als kleinere Korrekturen im sonst funktionierenden politischen und gesellschaftlichen System gerechtfertigt und kriegerische Konflikte als reiner Schutz der Menschenrechte und Verbreitung von Demokratie und Freiheit legitimiert. Repressive Toleranz als Duldung ist in praktischer Hinsicht also zum einen die Ignoranz von abweichenden Meinungen und zum anderen die Normalisierung jedweder Meinung als Zeichen der neutralen Darstellung in der Öffentlichkeit.

Die parteiliche Toleranz hingegen schöpft ihr emanzipatorisches Potential aus der Positionierung gegen existierende Ungerechtigkeiten. Da für Marcuse Toleranz auf theoretischer Ebene die Verbindung von Wahrheit und Kritik ist, können Herrschafts- und Machtpraktiken kritisiert werden, weil man sie als objektiv falsch zurückweisen kann. Damit wird noch keine eigene Ordnung begründet, sondern allein die mündige und befreiende Handlung gegenüber Obrigkeiten und Zwangsmechanismen legitimiert. Deshalb kann, so Marcuse, Toleranz auch niemals „von den bestehenden Mächten ‚gewährt‘ [werden]“ (S. 166). Toleranz müsse immer gegen die Herrschenden erkämpft werden. Diese Dimension der „parteilichen Toleranz“ deutet deren Konflikthaftigkeit an: Wer sich als parteilich oder als repressiv darstellt, ist Gegenstand eines Deutungskampfes zwischen Herrschenden und Beherrschten und lässt sich weder einseitig auflösen noch auf unbestimmte Zeit verfestigen. Der Toleranzbegriff ist also theoretisch wie praktisch zentraler Bestandteil politischer Auseinandersetzungen.

Die Ambivalenz der Toleranz

Ich habe bisher aufgezeigt, dass sich der Toleranzbegriff nach Marcuse anhand der ambivalenten Verhältnisse Verschleierung oder Wahrheit (theoretische Ebene) und Duldung oder Emanzipation (praktische Ebene) verstehen lässt. Marcuse vertritt die Position, dass Toleranz aufgrund ihrer ideologischen Umformung zu repressiver Toleranz wurde. Dagegen muss parteiliche Toleranz die objektive Wahrheit zum Ziel haben, um sich aus der Repression zu lösen. Doch kann es Toleranz als parteiliche Toleranz ohne Widersacher, ohne repressive Toleranz geben? Sind die parteiliche und die repressive Toleranz nicht vielmehr untrennbar miteinander verflochten und bilden damit ein ambivalentes Verhältnis?

Wenn man sich die parteiliche Toleranz als normative Leitlinie für oppositionelle Kräfte und unterdrückte Minderheiten vorstellt, um sich Artikulationsräume zu erkämpfen, politisches Handeln gegen herrschende Verhältnisse zu rechtfertigen und ihre Position als legitim in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu behaupten, dann lässt sich die parteiliche Toleranz schwer ohne ein Gegenüber, ohne eine repressive Toleranz denken. Im Akt der Auflehnung steckt immer auch der Wunsch nach Emanzipation und der (indirekte) Anspruch, dass das eigene – wenn man so will parteiliche – Interesse ein Körnchen Wahrheit enthält. Dazu muss jedoch der politische Gegner als repressiv und freiheitsberaubend bezeichnet werden. Die parteiliche Toleranz „leidet“ also immer unter dem Druck, die andere, repressive Seite der Toleranz auch als solche zu identifizieren und anzuprangern. Ansonsten würde die parteiliche Toleranz im Sinne Marcuses nicht als objektive Wahrheit von Anderen anerkannt werden, sondern nur als eine von vielen ideologischen Argumentationen zum Zwecke des eigenen Macht- und Herrschaftserwerbs. Marcuse konzipiert parteiliche Toleranz jedoch nicht zum Zwecke des erneuten Machterwerbs durch bestimmte Gruppen, sondern zur Negation des Bestehenden und folglich um die Emanzipation aus eben diesen Verhältnissen.

Parteiliche Toleranz setzt demnach einerseits unterdrückende Verhältnisse voraus, in denen repressive Toleranz besteht und aus denen man sich emanzipieren kann. Andererseits heißt das, dass Emanzipation überhaupt möglich ist. Damit bleibt neben der Unterdrückung durch die Herrschenden immer Emanzipation als alternative Handlungsoption für Unterdrückte und Marginalisierte; es gibt keine Abgeschlossenheit des politischen und gesellschaftlichen Systems gegen Wandel. Die Möglichkeit zur Veränderung des Bestehenden, indem es negiert und sich dagegen aufgelehnt wird, impliziert somit ein konflikthaftes Verhältnis zwischen repressiver und parteilicher Toleranz.

Toleranz ist also weder bloß repressiv, noch bloß parteilich. Sie bildet ein ambivalentes und konflikthaftes Verhältnis aus Verschleierung und Wahrheit sowie aus Duldung und Emanzipation. Dabei spannen parteiliche und repressive Toleranz (und ihre jeweiligen dargestellten Dimensionen) ein Kontinuum auf, bei dem die Absolutpunkte – vollständige parteiliche Toleranz und allumfassende repressive Toleranz – jeweils als Idealtypen zu verstehen sind. Einer gesellschaftstheoretischen Analyse obliegt es, das jeweils gegenwärtige Verhältnis beider Seiten der Toleranz zu hinterfragen und auf seine normativen Implikationen zu prüfen. Im Gegensatz zum häufig resignierenden Ton seiner Kollegen und Freunde Adorno und Horkheimer lässt sich also im Anschluss an Marcuse eine praktischere und politischere Seite der Kritischen Theorie denken, die sich wieder traut „positive Alternativen im schlechten Ganzen zu erschließen“ (Honneth).

 

Stefan Wallaschek studiert im Master „Politikwissenschaft“ an der Universität Bremen und ist Vorsitzender der Deutschen Nachwuchsgesellschaft für Politik- und Sozialwissenschaft (DNGPS) sowie Mitglied der AG „Politische Theorie“.

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