Praktiken der Kritik – Konferenznachlese

„Praktiken der Kritik“ war der Titel der vierten internationalen Nachwuchskonferenz des Frankfurter Exzellenzclusters Normative Ordnungen vom 5. bis zum 7. Dezember. Ein Titel, der großen Spielraum für Anknüpfungen bot, was sich in der  großen Zahl von 25 Panels wie auch in der interdisziplinären und internationalen Vielfalt der Teilnehmenden spiegelte. Auch die Rahmenveranstaltungen deckten verschiedene Aspekte dieses weiten Fokus‘ ab: Die beiden Keynotes von Andreas Fischer-Lescano zur kritischen Rechtstheorie und von Banu Bargu (SOAS London) zur Verknüpfung von politischer und ästhetischer Theorie anhand der Frage „Why Bouazizi burnt himself“ zeigten, dass „Praktiken der Kritik“ nicht rein akademische sind, sondern immer durch die Verbindung mit  praktischen und materiellen Zusammenhängen gezeichnet sind. Ein Verhältnis, das auch in vielen der Panels diskutiert wurde.

Unter dem Titel „Between force and violence. A critique of law in world society“ plädierte Fischer-Lescano für ein „Tertium des Rechts“. Die „Rechts-Kraft“ jenseits von Rechtsgewalt und Rechtsvernunft werde verkannt, wodurch das Potential einer an dieser Kraft ansetzenden ästhetischen Reflexion des Rechts für eine emanzipatorische Theorie und Praxis des Rechts unausgeschöpft bleibe. Mit Referenz auf die erste Generation der Kritischen Theorie formulierte Fischer-Lescano die Vorstellung, dass „das Recht […] seine pathologische Verdrängung der Gewalt und des Arationalen therapieren [muss], die zur Entfesselung der Gewalt in der Rechtsrationalität geführt hat. Es muss die Tragödie seiner selbst anerkennen.“ Erst dann sei es möglich, ein Recht zu gestalten, das Leid, Emotion und auch Trieb fassen kann, ein Recht, das anerkennt, dass Menschen Wesen aus Fleisch und Blut und nicht rein rational sind. In dieser Erkenntnis und Anerkennung der „Rechts-Kraft“ lägen Möglichkeitsbedingungen von Kritik, so Fischer-Lescano, welche mithilfe der „(unmögliche[n]) Verwirklichung des gerechten Rechts“ auf eine Transzendierung des Bisherigen zielten.

Banu Bargu hingegen konzentrierte sich vor allem auf die Realisierung von Kritik und deren Darstellungsformen. Ihr Vortrag “Why Did Bouazizi Burn Himself? Fatal Political Action as Embodied Critique” stellte die Praxis der Selbstverbrennung in den Fokus und beschäftigte sich damit mit einem Bereich – dem des menschlichen Körpers – der als das letzte Refugium des Individuums vor dem Zugriff externer Mächte und ideologischer Regierungen verstanden werden solle. Dabei ging es weniger um die Frage des (körperlichen) (Selbst)Entzugs von Herrschaft als um den Umgang mit dem, was vor allem in der ideengeschichtlichen Tradition als Schicksal (fortuna) bekannt ist. Bargu ließ die theoretische Herleitung beim römischen fatum beginnen und leitete über zu Niccolò Machiavellis „Principe“, dem klugen und regierungsbegabten Führer, der den richtigen Moment zu nutzen weiß, um dem unbekannten Schicksal zu begegnen. Michel Foucault habe, so Bargu, in seinen Überlegungen zu Herrschaft, Macht und Biopolitik einen entscheidenden Wandel formuliert: Nicht mehr das Unbekannte sei das Schicksal, die Regierung sei nun zum Schicksal der Menschen geworden. Dieser Dominanz sei nur schwer zu entrinnen, und letztlich sei die Selbstverbrennung des Bouazizi, des tunesischen Händlers, dem Unrecht und Gewalt widerfuhren, ein solcher Akt des Entzugs gewesen: Meinen Körper könnt ihr nicht bestimmen, sein Schicksal liegt in meinen eigenen Händen.

Während diese beiden Vorträge den Rahmen für die Diskussionen schufen, ging es in den 25 größtenteils von Nachwuchswissenschafler_innen des Clusters organisierten Panels noch sehr viel vielschichtiger um die Trias der Fragen nach den Möglichkeitsbedingungen von Kritik, der Form ihrer Realisierung und der Reaktion auf kritische Praxen. Dabei sollten besonders die Aspekte der Macht, der Gerechtigkeit als Begründungsfundament von Kritik und der ästhetische Aspekt ihrer Darstellung eine Rolle spielen. Perspektiven der Politischen Theorie, der Rechtswissenschaften, Politikwissenschaft, Soziologie, Philosophie und Geschichte näherten sich diesen abstrakten Begriffen auf unterschiedlichste Art und Weise.

So wurde die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen von Kritik beispielsweise unter historischen und kulturellen Aspekten im Panel „Other Voices – Other Critique? Critical Knowledges Otherwise“ verhandelt. Gyunghee Park (Cork) stellte die kritische Frage, ob eine „Kosmopolitisierung des Gedächtnisses“ möglich sei – ist das Leiden verschiedenster Menschen auf der Welt, das in Kriegs- und Gewaltsituationen entstanden ist, in einem gemeinsamen Erinnerungsgedächtnis kollektivierbar? Ein sehr aktuelles Thema beschäftigte Federico Oliveri (Pisa), der sich mit „Migrant Activism and the Future of Citizenship“ auseinandersetzte. Die Tatsache, dass Flüchtlinge teilweise Rechte einfordern, die in keinem Gesetzbuch festgehalten sind, deute möglicherweise auf die Entstehung neuer normativer Ordnungen hin.

Mit der Realisierung von Kritik auf theoretischer und praktischer Ebene befasste sich eine Vielzahl von Panels. Dabei waren die Begriffe Macht (z.B. „Transnationaler Konstitutionalismus zwischen Herrschaft und Kritik“), Gerechtigkeit (z.B. „Critical Theory and Global Justice: Justice, Law and Democracy Beyond the State“) und Darstellung (z.B. „Die Kritik auf der Leinwand – Darstellungsformen von Rechtfertigung“) so prominent wie umstritten. Ansätze einer immanenten Reflexion kritischer Wissenschaft wurden in dem  Panel zur„Normativität der Sozialkritik“ diskutierte, so z.B. wenn Samuel Müller (New York) die Frage nach dem Verhältnis von religiösen zu säkularen Sinngehalten bei Habermas stellte. Sabrina Engelmann (Darmstadt) untersuchte im Panel „Democracy in theory and practice – or both?“ die Idee der sich selbst schützenden Demokratie als eine Form nicht-idealer Demokratietheorie, bei der die Verknüpfung von Theorie und Praxis sehr deutlich werde.

Bezüglich der Reaktionen auf Kritik ging es sowohl um Institutionen und deren Eigenlogiken („Krise und Kritik im Banken- und Finanzwesen“) wie auch um individuelle Wahrnehmungen („Pathologies, Loneliness and Therapy: Relations between Psychology and Critique“), die durchaus ins Ir- oder auch Arationale gleiten können, was auch schon in Fischer-Lescanos Formulierung vom  „Wahnsinn am Recht, durch Recht“ angeklungen war.

Neben den akademischen Programmpunkten gab es die Möglichkeit, sich bei einer Führung über den IG Farben Campus mit der Geschichte der Frankfurter Universität als Ort der Kritik wie als zu kritisierenden Ort auseinanderzusetzen. Damit sollte auch eine Anknüpfung an die vergangenen und gegenwärtigen Frankfurter „Praktiken der Kritik“ gegeben werden. Den Abschluss des Rahmenprogramms bildete schließlich am Samstagabend eine Podiumsdiskussion, bei der Robin Celikates (Uni Amsterdam), Juliane Rebentisch (HfG Offenbach), Teivo Teivainen (Uni Helsinki) und Sonja Buckel (Uni Kassel) die spannungsreiche Beziehung von „Academia and Critique“ diskutierten“, moderiert von Thomas Biebricher (Uni Frankfurt). Dass die Podiumsdebatte zu einer bildungspolitischen Diskussion besonders der deutschen Zustände wurde, war nicht unbedingt beabsichtigt, zeigte aber wie das oft widersprüchliche Verhältnis von  akademischem Verantwortungsgefühl und gleichzeitiger Handlungsabstinenz von den Wissenschaftler_innen selbst problematisiert wird.

Diese Konferenz hat gezeigt, dass die „Praktiken der Kritik“ vielfältig sind und dass sie weit über Frankfurt hinaus einen wichtigen Topos der theoretischen Arbeit bilden. Vor allem aber ist entscheidend, dass kritische Praxis sich ihrer Bedingungen und Möglichkeiten bewusst wird..

Katia Henriette Backhaus hat in Kiel studiert und ist seit Anfang 2013 Stipendiatin des Exzellenzclusters „Normative Ordnungen“.  Ihre Doktorarbeit befasst sich mit dem theoretischen Verhältnis von Freiheit und Nachhaltigkeit.  Sie war eine der Mitorganisatorin der Nachwuchskonferenz.

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