Die Kritik der Politischen Theorie. Zur Heidelberger Sektionstagung „Politische Theorie und Gesellschaftstheorie“

Die Dämme zwischen Politischer Theorie und Soziologischer Theorie sind allzu lange allzu hoch gezogen worden. Dies jedenfalls lässt sich schon vorab als Ergebnis der Tagung der Theoriesektion Ende September in Heidelberg festhalten. Anstelle eines chronologischen Durchgangs durch Referierende und Referiertes will ich jedoch versuchen, selektiv einen möglichen roten Faden zu skizzieren. Denn die von den Veranstaltern Michael Haus und Sybille de la Rosa intendierte Standortbestimmung der Politischen Theorie durch die Konfrontation mit der Gesellschaft scheint sich vorerst in einem zentralen Begriff geäußert zu haben: Kritik.

Kritik der Theorie: Zurück zur Realität
Zunächst kam diese Kritik von Seiten der soziologischen ‚Gastredner‘ Uwe Schimank und Heinz Bude. Beide plädierten für eine erneute Hinwendung zur Wirklichkeitswissenschaft und einen „heuristischen Realismus“. Bude rückte dabei Herrschaft, Ungleichheit und Ideologie als Analysedimensionen in den Fokus und führte sie in seiner Zeitdiagnose zusammen: In der Empirie offenbaren alle drei Dimensionen, dass in die Zukunft keine positiven Erwartungen mehr gerichtet seien und dass die Politik die Aufgabe der Produktion einer solchen Zukunft an eine damit völlig überforderte Zivilgesellschaft abgegeben habe. Allerdings stellt Budes Kritik an der Krise der Zukunft selbst eine Niedergangserzählung dar, laut derer eine vormalige Zuversicht in eine Kultur der sozialen Resignation degeneriert sei.

Etwas nüchterner formulierte dagegen Schimank seinen Vorschlag an die Politische Theorie: Die Gesellschaftstheorie stelle dieser im Grunde drei zentrale Paradigmen zur Verfügung, mit denen der Zugang zur Gesellschaft differenzierungstheoretisch, ungleichheitstheoretisch oder kulturtheoretisch aufgeschlossen werden könne. Mit den jeweiligen Brillen würden dann spezifische Kämpfe um Legitimität deutlich, die jedoch vielfach ökonomisch überformt seien.

Die Kapitalismusanalyse liegt nach Schimank also quer zu den drei gesellschaftstheoretischen Paradigmen. Gerade hier befinde sich aber ein zentrales Kompetenzdefizit der Politischen Theorie, konstatierte Michael Haus mit Blick auf die Postdemokratiedebatte. Zwar stimmte er dem Grundtenor von Oliver Eberls und David Salomons Vortrag zu, dass es notwendig sei, der Melancholie der Debatte einen optimistischen Entwurf entgegenzusetzen. Eberl und Salomon hatten dann dafür plädiert, gegen die Trennung des Politischen und des Sozioökonomischen in den gängigen Demokratietheorien ein Konzept zu entwickeln, in dem beide Momente verknüpft sind. Doch wäre hierfür, so Haus, statt der von den Referenten geleisteten Theorierekonstruktion eine erneute Analyse kapitalistischer Prozesse notwendig. Tatsächlich gehört diese mühsame Auseinandersetzung mit Ökonomietheorien aber eher zu den brachliegenden Feldern politischen Denkens. Daran anschließend wäre außerdem für Haus zunächst eine Frage zu beantworten: Warum sitzt der Kapitalismus trotz der diagnostizierten Krisenhaftigkeit weiterhin fest im Sattel?

Kritik der Kritik: Eine empirische Theorie der Normativität
Diese Frage zielt direkt auf Frank Nullmeiers Forderung nach einer „empirischen Theorie der Normativität“. Im Anschluss an Schimank machte Nullmeiers Kommentar damit geltend, dass es eine Konkurrenz der Ordnungsvorstellungen gibt, sodass die stets überraschende Stabilität eines Orientierungsrahmens zu erläutern sei: Warum sind welche Normen wo in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt verankert? Die Hinwendung zur Realität bedeutet dieser Forderung folgend gerade nicht zuvorderst eine Kritik des Bestehenden, sondern dass zunächst einmal ein umfangreiches hermeneutisches Verstehen der Realität zu erbringen wäre, um deren Leistungsfähigkeit zu dechiffrieren.

Dieses Vorhaben zielt dabei in die Richtung, die bereits Klaus Schlichte auf einer vergangenen Sektionstagung in der griffigen Formel „der Gehorsam ist das Erklärungsbedürftige“ angemahnt hatte. Grit Straßenberger nahm dies in ihrem ideengeschichtlichen Durchgang der Elitentheorien auf und barg einerseits deren Überlegungen, wie Gefolgschaft gegenüber einer herrschenden Elite von oben arrangiert werden könne; andererseits machte sie auf die Verfestigung gemeinsamer Sinnperspektiven aufmerksam, die zur Versöhnung von Demokratie und Eliten im Leistungselitenbegriff notwendig gewesen sei. Die Position des Bürgers als Rezipient von Deutungsangeboten erhielte gerade in der Idee der Demokratie normativ Gewicht. Mit Blick hierauf ergänzte Samuel Salzborn in seinem Kommentar, dass es dann eine Aufgabe von Theorie sein müsse, eine Binnenperspektive von Ideologien einzunehmen und die grundsätzliche Übereinstimmung von Selbstbildern bei sehr unterschiedlichen Individuen ebenso wie deren Zustandekommen zu inspizieren.

Gerade die von Straßenberger genutzte Ideengeschichte könnte mit Blick auf diese Herausforderung einer empirischen Theorie der Normativität ein Untersuchungsmodell anbieten, das aber in der Sektion zusehends wegschmelze, wie Elisabeth Conradi bemerkte. Verortet man die ideengeschichtlichen Artefakte historisch wie wissenssoziologisch und legt neben ihrem konzeptionellen Gehalt auch ihre rhetorischen Strategien frei, so werden an ihnen die Destabilisierung, Bearbeitung und Neustabilisierung von Normen und die daran gekoppelten Praktiken empirisch sichtbar.

Theorie als kritische Praxis: [p]olitische Theorie
Die politische Dimension Politischer Theorie forcierte Conradis Vortrag stattdessen in selbstkritischer Absicht, indem er exkludierende Praktiken in politiktheoretischen Texten als ein grundlegendes Problemfeld ausmachte. Diesen mahnenden Blick auf die realitätskonstruktive Funktion von Theorie bestärkte Holger Zapf in seinen Ausführungen zur Politizität von Gesellschaftstheorie, deren beiläufige Generalisierung spezifisch westlicher Normen, Annahmen und geschichtlicher Konzepte fortbestehe und den Weg zu einer interkulturellen Weitung der sozialwissenschaftlichen Perspektive versperre.

Die systemkritische Ambition textimmanenter Lektüren stellte hingegen Matthias Spekker heraus, als er zeigte, wie dem Liberalen Hayek die Unterwerfung des Individuums durch den Markt in seinen eigenen Texten entgehe: Hier zeichne sich schon grammatikalisch ab, wie der Markt zusehends die Position des Subjekts übernehme und dabei das Individuum in die Objektstellung rutsche. Am radikalsten, aber mit rhetorischer Gelassenheit brachte den Anspruch einer engagierten politischen Theorie allerdings Michael Hirsch vor: In Abgrenzung zu Poststrukturalismus und Systemtheorie forderte er eine erneute linke Kritik der bürgerlichen Ideologie ein, deren Grundbegriff Emanzipation sein solle. Theorie habe dabei nicht die Aufgabe, nur eine Bestandsaufnahme von Problemen zu liefern, sondern die fachspezialistischen Einhegungen aufzusprengen und offensiv alternative hegemoniale Projekte zu formulieren. Mit der starken Anlehnung an Mouffe und Laclau kauft sich die Position Hirschs allerdings zwei Grundprobleme engagierter Theorie ein, die Martin Nonhoff explizierte: Einerseits zerbröselt die Grenzziehung zwischen Politik und Wissenschaft, andererseits bleibt unklar, ob der Wissenschaftler eigentlich als Avantgarde auf- oder nur für das eigene Subjekt eintreten dürfe. Außerdem sei fragwürdig, inwiefern die Wissenschaft für die Formulierung neuer Einheiten zuständig ist oder doch vielmehr die Visibilisierung der Brüchigkeit und Flüchtigkeit von Einheiten anstreben müsste.

Diese Überlegung hat Alexander Weiß in einem ausgezeichneten Vortrag entwickelt, in dem er das kritische Potential der Systemtheorie Luhmanns zu bergen suchte. Dieses trete hervor, wenn man in der Hierarchie von Ausdifferenzierung und Kontingenz letzterer den Vorrang einräume, da Kontingenz eine Neustrukturierung des Möglichkeitsraumes in den Blick nehme. Mit der „Soziologischen Aufklärung“ im Rücken ließe sich die Demokratie bei Luhmann als normativ qualifiziert verstehen, da sie – metaphorisch gesprochen – mit einem Anrecht auf Kontingenz und damit auf Mehrfach- und Alternativbeschreibung einhergehe.

Ob allerdings Kontingenz an sich bereits eine normative Qualität sei oder es einer Theorie des guten Lebens bedürfe, damit die Offenheit für Veränderung nicht in eine Indifferenz gegenüber dem demokratietheoretisch Nichtwünschbaren abgleite, blieb eine konstante Frage der Tagung. Insofern muss die eingangs gemachte Zuspitzung auf den Begriff der Kritik wohl in eine Trias überführt werden, die die vorzüglich organisierte und fachlich fruchtbare Veranstaltung begleitete und durchaus als Aufgabenbeschreibung für die Politische Theorie und Ideengeschichte verstanden werden kann: Ausgehend von der Kontingenz soziopolitischer Ordnungen bedarf es einer Untersuchung ihrer normativen Realität, um so zu einer Kritik zu gelangen, die wiederum auf die nicht realisierten Möglichkeiten einer Ordnung verweist.

Vincent Rzepka ist Promovend am Lehrstuhl „Theorie der Politik“ der Humboldt-Universität zu Berlin. Im September erschien sein Buch „Die Ordnung der Transparenz“ als Band 9 der Reihe „Studien zur visuellen Politik“ von Prof. Dr. Wilhelm Hofmann.

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