Transkulturell vergleichende politische Theorie mit oder gegen Gadamer?

Globalisierungsdiskurse stehen seit einigen Jahren in der politischen Theorie hoch im Kurs. Von globalen Gerechtigkeitsfragen in Anlehnung an Rawls’‚justice as fairness’ bis zur ‚comparative political theory’ in Anlehnung an Gadamers philosophische Hermeneutik– politische TheoretikerInnen reagieren auf das vielfach beschworene Zusammenrücken der Welt (qua digitaler Vernetzung), indem sie einschlägige Erklärungsmodelle erweitern und von ihnen Antworten zu weltpolitischen Fragestellungen ableiten. Doch diese Erweiterungen überdecken mitunter Probleme in der Ausgangstheorie anstatt diese zu lösen, wie ich am Beispiel von Gadamers Hermeneutik zeigen möchte, die vor allem von Fred Dallmayr auf Fragen der transkulturell vergleichenden politischen Theorie angewandt wird. Meine These lautet, dass Gadamers dialogisches Philosophieverständnis genau das voraussetzt, was eine interkulturelle Ideengeschichte, die ihren Namen verdient, zunächst herstellen müsste, nämlich eine Verständigung über einen Sachverhalt jenseits kultureller Grenzen.

Während der Historismus des 19. Jahrhunderts die zeitliche Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart als ein Problem sah, welches es zu überwinden galt, deutet Gadamer diese Distanz als produktives Moment. Da die Wurzeln der Gegenwart in der Vergangenheit liegen, sind für ihn Vergangenheit und Gegenwart trotz ihres zeitlichen Abstands eng miteinander verbunden. Ein Objekt der Vergangenheit, wie etwa ein Text, ist uns demnach nicht grundsätzlich fremd, sondern koexistiert in der Gegenwart. Diese Koexistenz von Vergangenheit und Gegenwart hat einen entscheidenden Einfluss auf den Auslegungsprozess, da sich die Bedeutung des Objekts aus dem zirkulären Zusammenspiel der Überlieferung mit dem Horizont der LeserInnen über einen bestimmten Sachverhalt ergibt. Die Überlieferung wirkt unmittelbar auf den Verstehensprozess ein, indem sie unsere Auffassung der Welt mithilfe von Vor-Urteilen lenkt. Texte, deren Andersheit unsere Vorannahmen gegebenenfalls enttäuschen und dadurch zu deren Korrektur zwingen, sind für den Verstehensprozess unentbehrlich, weil sie es ermöglichen, gute von schlechten Vor-Urteilen zu trennen. Mit seiner Hermeneutik fordert Gadamer InterpretInnen dazu auf, sich dem Text und anderen GesprächspartnerInnen im Dialog über ‚die Sache’ zu öffnen. Der gemeinsame Bezug auf einen Sachverhalt zwischen GesprächspartnerInnen bzw. InterpretInnen und Text ist für den Gadamer’schen Dialog konstitutiv—ohne ihn kann von einem Gespräch nicht die Rede sein.

Zwar hat sich Gadamer in seinem magnum opus „Wahrheit und Methode“ nicht mit Fragen interkulturellen Verstehens auseinandergesetzt, allerdings hat er in seinem Spätwerk versucht, diese Lücke zu schließen, indem er auf die Parallelität historischer und kultureller Verschiedenheit hingewiesen hat. Jedoch ist es meiner Einschätzung nach problematisch, hier von einer Parallelität auszugehen. Denn wenn ich heute einen klassischen Text der ‚westlichen’ Ideengeschichte lese, dann bin ich von manchen Grundüberlegungen, die in diesem Text entfaltet wurden, bereits (bewusst oder unbewusst) beeinflusst worden, bevor ich überhaupt mit der Lektüre des Textes beginne, während ein solches ‚Vorwissen’ bei meiner Lektüre eines ‚nicht-westlichen’, sagen wir chinesischen Textes, wohl keine oder jedenfalls eine viel untergeordnetere Rolle spielt. Man denke hier etwa an Hobbes’ negatives Freiheitsverständnis, das heute in ‚westlichen’ Demokratien derart dominiert, dass es mir vor meiner ersten Lektüre von Hobbes’ Leviathan schon geläufig war, während eine solche ‚Vorbeeinflussung’ bei meiner Lektüre konfuzianischer AutorInnen wohl nicht in der Form vorliegt. Und selbst wenn eine solche ‚Vorbeeinflussung’ durch intensives Studium der chinesischen Sprache und Literatur gewissermaßen im Nachhinein antrainiert werden könnte, wäre sie uns wohl auch dann noch bewusster als intrakulturelle Vorannahmen. Mit anderen Worten: intrakulturelle Vorannahmen liegen in tieferen Schichten unseres Kollektivbewusstseins als individuell erlerntes Wissen über einen anderen Kulturkreis. Das schließt ein Verständnis dieses Kulturkreises nicht aus, relativiert und minimiert aber dessen Einfluss auf unser Verständnis. Ein wesentlicher und von Gadamer unterschätzter Unterschied zwischen historischer Verschiedenheit und kultureller ‚Andersheit’ besteht also wohl darin, dass Texte aus einem anderen Kulturkreis ihre Überzeugungskraft auf ‘uns’ (‚westliche’ LeserInnen) nicht in dem Maße aus der zirkulären ‚Vorbeeinflussung’ ihrer Kernthesen speisen können, wie dies bei klassischen Texten der westlichen Ideengeschichte der Fall ist. Anders ausgedrückt: da meinem erstmaligen Zugang zur ‚Sache’ eines westlichen Textes (wie etwa den einschlägigen Kapiteln zum Freiheitsverständnis in Hobbes’ Leviathan) bereits eine kulturelle Formierung vorausgeht, fällt mein Eindruck dieses Textes in der Regel weniger ‚fremd’ aus, als dies bei der ersten Lektüre eines chinesischen Textes der Fall ist.

Weder Gadamer selbst noch die von ihm inspirierte ‚comparative political theory’ à la Dallmayr hat diesen Unterschieden die Beachtung geschenkt, die sie verdienen. Gadamer setzt die Ausrichtung auf die Sache als Kriterium eines gelungenen Gesprächs fest, ohne sie zu begründen oder kritisch zu hinterfragen. Im intrakulturellen Dialog mag das gemeinsame Erkennen der Sache vielleicht unter bestimmten Umständen (wie der Gegenwärtigkeit zweier DialogpartnerInnen, die gewisse Vorannahmen teilen) vorausgesetzt werden, doch im interkulturellen Dialog muss—in Anbetracht der potentiellen Verschiedenheit der Traditionen—das gemeinsame Verständnis der Sache zunächst hergestellt und darf nicht vorausgesetzt werden—das ist, was meiner Meinung nach, ein genuiner Dialog von uns verlangt. Bis das Gegenteil erwiesen ist (sofern ein solcher Nachweis in den tiefen Sedimentschichten zweier Kollektivbewusstseine überhaupt erbracht werden kann), sollten wir annehmen, dass ‚westliche’ LeserInnen chinesische Freiheitsdiskurse wohl vor dem Hintergrund anderer kultureller Vorannahmen deuten als ihre chinesischen KollegInnen, wenn wir die mögliche ‚Andersheit’ dieses Freiheitsverständnisses verstehen und nicht durch Assimilationen an unsere eigenen Perspektiven konterkarieren wollen.

Bevor wir also von einem Austausch über die Sache sprechen können, müssen wir so weit wie möglich sicherstellen, dass beide KonversationspartnerInnen den selben Referenzpunkt teilen, d.h. sich tatsächlich über ‚Freiheit’ in einem bestimmten Sinne des Wortes austauschen. Hierfür sind Begriffsklärung und Begriffsgeschichte nach meiner Einschätzung ebenso unverzichtbar wie die Reflexion über eigene Vorannahmen. So müssen sich beide GesprächspartnerInnen zum einen fragen, aus welchem Kontext sich geschichtlich die Bedeutung des Begriffs Freiheit in ihrem Kulturkreis entwickelte und wie sie den Begriff heute verstehen und benutzen. Zum anderen sollten sie sich bewusst machen, welche alternativen Konzeptionen im Laufe der Zeit an Überzeugungskraft verloren haben—und somit ihrem heutzutage als ‚alternativlos’ empfundenen Verständnis von Freiheit unterlegen sind—und welche ‚Werturteile’ in ihren Freiheitsbegriff eingeflossen sind. Interkulturelle Verständingung setzt also zunächst einmal intrakulturelles Verständnis voraus und zwar in dem Sinne, dass sich beide Seiten bewusst machen müssen, wie sie sich selbst verstehen, einschließlich der Begriffe, die sie verwenden. Anschließend sollte sie dann versuchen, sich mithilfe dieser Vorab-Reflexionen über einen Begriff auszutauschen.

Nun könnte man einerseits einwenden, dass sich durch solche Vorab-Reflexionen Missverständnisse nicht gänzlich ausschließen lassen und eher zu einem infiniten Regress führen, der ein wirkliches Gespräch dauerhaft verschieben würde. Zum anderen könnte man sich fragen, ob ich das interkulturelle Missverständnis zum Normalfall und das Verstehen zur Ausnahme erklären möchte.

Die Gefahr des infiniten Regresses können wir wohl nur dadurch eindämmen, dass wir nach intensiver Vorarbeit das Risiko des Missverstehens in Kauf nehmen, ohne uns davon lähmen zu lassen. Das bedeutet nichts anderes, als dass wir im intrakulturellen Dialog inne halten, wenn wir ein Missverständnis vermuten, aber ansonsten voraussetzen, dass wir uns wohl weitestgehend verstehen. Damit führe ich jedoch keineswegs Gadamers Verständnis über die Sache durch die Hintertür wieder ein, weil Gadamer Missverständnisse prinzipiell vor dem Hintergrund gemeinsamen Verstehens interpretiert und somit interkulturelle Differenzen unterschätzt, während nach meiner These die Herstellung der gemeinsamen Basis jedem interkulturellen Verständnis höherer Komplexität prinzipiell vorausgehen sollte. Ich gehe also nicht davon aus, dass jeder interkulturelle Dialog mit einem Missverständnis beginnt, sondern davon, dass die Möglichkeit zum Missverständnis besteht und mit steigender Komplexität des Sachverhalts wohl eher zu- als abnimmt. Kurz: ich wende mich gegen Gadamers Entproblematisierung interkultureller Verständigung, die das gemeinsame Verstehen über die Sache für selbstverständlich hält.

Nach meiner Einschätzung kann die auf Gadamer aufbauende transkulturelle politische Theorie nur dann ihre Assimilationstendenzen eindämmen, wenn sie das interkulturelle vom historischen Verstehen abkoppelt und als eigenständiges Forschungsfeld ernst nimmt. Andernfalls bliebe ihr Plädoyer für den dialogischen Austausch jenseits kultureller Grenzen rhetorische Augenwischerei.

2 Kommentare zu “Transkulturell vergleichende politische Theorie mit oder gegen Gadamer?

  1. Liebe Tania,

    ich verwende trans-und interkulturell (Austausch zwischen den Kulturen) hier synonym und unterscheide es von intrakulturell (innerhalb einer Kultur).

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