Albert O. Hirschman – glänzender Autor und Sozialtheoretiker – verstorben

Der am vergangenen Montag gestorbene Albert O. Hirschman war eine der wichtigsten Sozial- und Wirtschaftstheoretiker der vergangenen Jahrzehnte und doch wird sein Werk und sein Einfluss bis heute unterschätzt. Harald Bluhm, einer der herausragenden deutschsprachigen Kenner des Werkes Hirschmans, stellt unter dem Strich dessen wichtigsten Schriften kurz vor und erinnert an die Person Hirschmans.

Der am 10. Dezember verstorbene Albert O. Hirschman (1915 in Berlin geboren) war ein Grenzgänger zwischen der Ökonomie, der politischen Wissenschaft und der Ideengeschichte. Auf dem Gebiet der Ökonomie sind seine unorthodoxen entwicklungstheoretischen Arbeiten (A Bias for Hope. Essay on Development and Latin America (1971), Entwicklung, Markt und Moral. Abweichende Betrachtungen (1993)) und vor allem sein luzider Instantklassiker Exit, Voice und Loyalty (1970) zu nennen. In letzterem beschreibt er pointiert er das Problem von Metapräferenzen. Auch der öfter Claus Offe zugeschriebene Ausdruck des „preference laundering“ klingt sehr Hirschmanesk. Das Konzept von Abwanderung und Widerspruch (1974) – so der deutsche Titel von Exit, Voice und Loyalty – hat er später auch auf dem Gebiet der Politik angewandt und damit den Verfall und das Ende der DDR auf instruktive Art erklärt. In das ökonomische und politische Feld gehören seine Arbeiten zu Shifting Involvements (1982), zum Schwanken zwischen Privat- und Allgemeinwohl, die ungeachtet der problematischen Kopplung an die Kondratiev-Zyklen viel Resonanz gefunden haben. Auf dem Gebiet der Ideengeschichte sind vor allem The Passions and the Interest (1977) und The  Rhetoric of Reaction (1993) zu nennen. Hirschman war ein großartiger Autor, Diskutant und Anreger. Auch seine eher versteckten und daher kaum bekannten Aufsätze, etwa zur Frage des Imperialismus in Hegels Rechtsphilosophie und der schmale Band Tischgemeinschaft. Zwischen öffentlicher und privater Sphäre (1996) sind vortrefflich. Man kann nur hoffen, dass seine Schriften hierzulande auch künftig aufgelegt werden und die abgelegenen Texte in einem weiteren Sammelband erscheinen.

Hirschman begann mit der Frage, ob ökonomische Entwicklungshindernisse von Volkswirtschaften – die gängige Theorien rasch konstatieren – überhaupt solche sind oder ob solche Hindernisse nicht primär falschen Maßstäben entspringen und man ihnen daher politisch und sozial begegnen kann. Dieser Ansatz ist von ihm und einigen Interpreten generalisiert als Possibilismus bezeichnet worden, als Theorie, die Möglichkeiten erkundet. Hierüber kann man sich in dem von Alejandro Foxley, Michael S. McPherson und Guillermo O’Donnell  herausgegebenen Sammelband Development, Democracy, and the Art of Trespassing sowie in und Luca Meldolesi Discovering the Possible näher informieren.

Hirschmans Texte, die transdisziplinäres Denken praktizieren, sind ein Lesevergnügen; immer formuliert er präzise, häufig geradezu geschliffen. Hierfür nutzt er die kleine Form, den Essay oder das Booklet. Im Stil sind dem weltläufigen Gelehrten, der aus Deutschland vor den Nazis fliehen musste und auf verschlungenen Wegen (über Paris und Spanien) in die USA kam, die französischen Moralisten des späten 17. und frühen 18. Jahrhundert sowie Nietzsche ein Vorbild. Seine Studie über das konservative Denken hat die Erforschung politischer Weltbilder nachdrücklich auf die rhetorischen Stilfiguren gelenkt. Hieraus Denkfiguren und Topoi zu präparieren und zu analysieren, war eine seiner großen Stärken, die beispielsweise ihren Ausdruck findet in den einflussreichen Aufsätzen über die divergierenden Ansichten des Marktes (1986).

Über seinen Lebensweg, das Ablegen des zweiten „n“ im Nachnamen in den USA, die praktische Arbeit als Ökonom, die dann folgenden akademischen Stationen und seine Fragestellungen hat Hirschman u.a. in Selbstbefragung und Erkenntnis (1996) Auskunft gegeben. Dabei stellte er bei sich eine Tendenz zur Selbstsubversion fest – durchaus ungewöhnlich für den akademischen Betrieb, wo Korrekturen und Selbstkritiken offenzulegen ja nicht gerade à la mode ist. Hirschman selbst blieb dabei jedem ökonomischen Imperialismus abhold. Nicht nur deshalb ist er ein wieder zu entdeckender Autor – auch dass der Mainstream ökonomischen Denkens seit der Finanzkrise erheblich unter Druck geraten ist, dürfte dazu beitragen, dass die seit einigen Jahren währende Windstille um sein Werk zu einem baldigen Ende kommen könnte.

Dies gilt zumal für Deutschland, wo immer noch relative wenige Arbeiten zu Hirschman gibt – und dies ungeachtet der von der FU Berlin 1988 verliehenen Ehrenpromotion (vgl. aber den 2006 von Ingo Pies und Martin Leschke herausgegeben Sammelband zu Hirschmans grenzüberschreitender Ökonomik, in dem ich den hier nur angedeuteten Denkstil näher beschreibe). Hirschmans die Disziplinengrenzen überschreitenden heterodoxen Fragestellungen bilden jedoch vorzügliche Gegenstände für Promotionen, verheißungsvoll diesbezüglich ist auch der in Princeton verwaltete Nachlass, in dem sich eine große Zahl bisher noch unveröffentlichter Schätze befindet (hier katalogisiert). Vielleicht nehmen sich junge Wissenschaftler ja sogar ein Vorbild an Hirschmans herrlich lakonischem Stil, in Zeiten überquellender Textproduktion wäre dies nachdrücklich zu wünschen.

 

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Harald Bluhm ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Ein Kommentar zu “Albert O. Hirschman – glänzender Autor und Sozialtheoretiker – verstorben

  1. Hirschman war zwelfellos eine sehr bedeutende Persönlichkeit. Dank ihm wurden viele neue Ansichten in der Ökonomie sowie in der Wirtschaft entwickelt und die Mehrheit von ihnen sogar in die Tat umgesetzt. Mit der Entwicklung der Polarisationstheorie hatte er großen Erfolg, da er da die Komplexität und Vielschichtigkeit der wirtschaftlichen Prozesse dargestellt hat. Die von ihm behandelten Themen sind auch in gewißem Maße mit Soziologie und Politologie verbunden und haben viele in diesem Bereich aktive angeregt.

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