Das Recht auf Einwanderung und das Recht auf Ausschluss – Oliviero Angelis Replik

Vor drei Wochen haben wir den ZPTH-Beitrag “Das Recht auf Einwanderung und das Recht auf Ausschluss”  von Oliviero Angeli als PDF-Download hier auf dem Theorieblog veröffentlicht – begleitet von einem Kommentar zu dem Artikel von Jan Brezger. Heute antwortet Oliviero auf Jans Kritik sowie die weiteren Kommentare, die bisher zu dem Artikel veröffentlicht wurden. Lest selbst und diskutiert fleißig weiter – nach dem Strich.

Es gibt in der Blogosphäre Themen bei denen die Gemüter sehr schnell hochkochen können. Das Thema Einwanderung ist dafür prädestiniert. In dieser Blog-Diskussion ging es allerdings nicht polemisch-heiß her, sondern eher analytisch-kühl zu. Das hat mich unvorbereitet getroffen und mir zwei gedankenintensive (und lehrreiche) Wochen beschert. Dafür bin ich dem Team von Theorieblog sehr dankbar. Ein großer Dank gebührt auch den Blog-KommentatorInnen und insbesondere Jan Brezger, der meine Argumentation im Rahmen seines Kommentars sehr präzise rekonstruiert hat. Zuweilen hatte ich den Eindruck, dass er meinen Artikel besser verstanden hat als ich selbst! Im Folgenden möchte ich auf seine drei Einwände eingehen und dabei auch zu den kritischen Anmerkungen weiterer KommentatorInnen Stellung beziehen. Ich werde mich kurz fassen und bitte schon jetzt um Nachsicht, dass ich nicht auf jeden Punkt eingehen werde.

Der erste Kritikpunkt von Jan Brezger richtet sich gegen meine Auffassung des generellen Rechts auf Einwanderung. Dieses sei so schwach konzipiert, dass es den Namen ‚Recht’ nicht verdiene. Natürlich geht es hier nicht um die Rechte der sogenannten Zwangsmigranten (forced migrants), die sehr wohl einen Anspruch (claim right) auf Einwanderung haben. Brezger kritisiert, dass ich Menschen, die keiner Zwanglage entfliehen müssen, letztlich kein Recht auf Einwanderung einräume, da diese „die Entscheidungen des Demos respektieren müssen“, der ihnen die Einreise verweigert. Ist die Rede von einem Recht auf Einwanderung in solchen Fällen sinnvoll? Kann ich von einem Recht auf Einwanderung reden, wenn ich zugleich die Pflicht habe, nicht einzuwandern? Ich denke, diese Art von Rechtskonflikt ist nichts Außergewöhnliches. Es gibt im Zusammenleben einer demokratischen Gesellschaft oftmals Situationen, in denen Personen hinnehmen müssen, dass ihnen Leistungen oder Rechte verwehrt werden, die ihnen moralisch zustehen. Es ist anzunehmen, dass sich diese Personen damit nicht abfinden werden. Sie werden andere davon überzeugen wollen, dass ihnen ein Unrecht wiederfahren ist. Werden sie damit zugleich bestreiten, dass Andere das Recht haben, die Dinge anders zu beurteilen? Ich glaube eher, dass sich viele in einer Form ‚demokratischer Zurückhaltung‘ üben werden, die nichts mit Pragmatismus oder Wertrelativismus zu tun hat. Sie ergibt sich vielmehr aus der Anerkennung des Anderen als moralisch urteilender Person. Nach meiner Überzeugung setzt ein normativ gehaltvolles Verständnis demokratischer Legitimation letztlich genau diese Form der Anerkennung voraus.

Es ist mir durchaus bewusst, dass Kantianern diese Form der Anerkennung Bauchschmerzen bereitet. Karoline Reinhardt sieht das Problem in meiner Bestimmung der durch das Recht zugelassenen Handlungsoptionen. Sie schreibt: „Meine Handlungsoptionen werden mir nicht durch das Recht eröffnet, sondern meine Optionen werden an den moralisch gebotenen Rechten der anderen geprüft und durch diese eingeschränkt“. Diese Interpretation entspricht dem kantischen Autonomieverständnis, wonach Individuen nicht autonom handeln, wenn sie (moralisch verwerfliche) Entscheidungen treffen bzw. Handlungsoptionen nachgehen, die mit der Freiheit anderer unvereinbar sind. Eine solche Auffassung weicht vom Autonomieverständnis ab, das meinem Artikel zugrunde liegt und an Raz (1986) angelehnt ist. Während es Reinhardt vorrangig um Handlungsoptionen und deren Legitimation geht, kommt es mir vor allem auf die Gewährleistung eines rechtlichen Spielraums an. Innerhalb dieses Spielraums können Individuen autonom entscheiden oder handeln – freilich nur solange sie keinen ungerechtfertigten Zwang auf Andere ausüben.

Diese letzte Bemerkung bedarf einer weiteren, kurzen Erläuterung. Das Recht auf Ausschluss impliziert eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit. So viel steht fest. Weniger klar ist, wann diese Einschränkung der Bewegungsfreiheit den Charakter einer Zwangsausübung annimmt. Ein Indiz dafür ist das Fehlen einer adäquaten Bandbreite an alternativen Optionen. In meinem ZPTH-Artikel habe ich betont, dass das Fehlen dieser adäquaten Bandbreite an alternativen Optionen letztlich einer Aberkennung der moralischen Selbstständigkeit (independence) als Bedingung der Autonomie gleichkommt. Die Frage, die sich hier stellt ist: Was ist eine adäquate Bandbreite an alternativen Optionen? Wie Raz glaube ich – und damit nehme ich meine Erwiderung auf Brezgers dritten Einwand vorweg – dass Autonomie letztlich „a matter of degree“ ist (1986, 373). Das heißt freilich nicht, dass alles relativ ist. Es gibt Einwanderungsbeschränkungen, die mit Sicherheit einen Eingriff in die Autonomie bedeuten (dies gilt z.B. für die bereits erwähnten forced migrants). Es wäre allerdings eine unnötige Überdehnung des Autonomiebegriffs, wenn wir jede moralisch verwerfliche Einschränkung der Bewegungsfreiheit als Eingriff in die moralische Autonomie anprangern würden. Wer an dieser Stelle die Analogie zum Verbot von Religionsgemeinschaften bemüht, mutet dem Ideal der Bewegungsfreiheit m. E. zu viel zu. In einer Situation relativ großer Bewegungsfreiheit kommt nicht jedem möglichen Zielland die Funktion eines potentiellen Identitäts- und Sinnstiftungssystems zu.

Der Unterscheidung zwischen Einschränkung der (Bewegungs-)Freiheit und Zwang kommt aber auch noch in anderer Hinsicht eine besondere Bedeutung zu. Reinhardt betont, dass nicht nur die Bürger und Bürgerinnen eines Staates von Einwanderungspolitiken betroffen sind, sondern auch diejenigen Personen, die einwandern möchten. Der Grad an ‚Betroffenheit‘ kann allerdings sehr unterschiedlich sein und darauf kommt es bei der Bestimmung der Legitimationsinstanz an. Wenn eine Zwangsausübung vorliegt, so bedarf sie der Legitimation, etwa der demokratischen Legitimation (Abizadeh 2008), durch jene, die dem Zwang ausgesetzt sind. Nicht jede Form der Freiheitseinschränkung bedarf m. E. dieser anspruchsvollen Form der Legitimation.

In seiner zweiten Kritik beklagt Brezger eine Ungleichbehandlung des Rechts auf Einwanderung. Er kritisiert, dass diesem Recht nicht derselbe normative Stellenwert zukommt wie dem Recht auf Ausschluss. Ähnlich argumentiert Andreas Cassee. Ein Punkt bedarf zunächst der Klärung: In meinem Artikel bin ich von einem interessenbasierten Verständnis des Rechts ausgegangen, demzufolge nicht Rechte, sondern Interessen gegeneinander abgewogen werden. „Demnach wird das Recht auf Bewegungsfreiheit nur Menschen zugesprochen, von denen wir annehmen können, dass ihr Interesse, frei über Bewegungsoptionen zu entscheiden beziehungsweise sich frei zu bewegen, hinreichend stark ist, um gegenläufige Interessen zumindest in normalen Fällen aufzuwiegen“ (Fn. 16). Zu diesen ‚gegenläufigen Interessen‘ gehört das Interesse der Menschen als Staatsbürger über Fragen der Zugehörigkeit zu entscheiden. Ist dieses Interesse moralisch gesehen so bedeutsam, dass es ein entsprechendes Recht begründen kann? Wiegt es schwerer als das gegenläufige Interesse an Bewegungsfreiheit? Wenn wir dieses Interesse fallspezifisch abwägen, sind wir geneigt, diese Frage zu verneinen. Dem Interesse einer Person sich frei zu bewegen kommt wohl mehr Bedeutung zu (sofern von dieser Person keine Gefahr ausgeht). Dies gilt allerdings nur solange wir annehmen, dass Rechte nur dann gerechtfertigt sind, wenn sie Handlungen gestatten oder verbieten, die im unmittelbaren Interesse ihrer Rechtsinhaber sind. Damit handeln wir uns allerdings ein Problem bei der Legitimation demokratischer Rechte ein. Denn diese sind gerade nicht gerechtfertigt, weil ihre Inhaber immer das richtige wählen. Es geht vielmehr um die Chance, entscheiden zu können. Andreas Cassee wendet an dieser Stelle ein, dass diese Argumentation in die Begründung eines demokratischen Freiheitsrechtes (privilege) – nicht eines Anspruchsrechts (claim-right) – mündet. Demnach unterliegt ein demos nicht der Pflicht, Einwanderer aufzunehmen, die keiner Zwanglage entfliehen müssen. Er kann sich frei entscheiden. Der Entscheidungsspielraum wäre dabei rein fiktiv und die Entscheidung letztlich wirkungslos. Denn kein demos hätte einen Anspruch darauf, dass seine Entscheidung Anerkennung findet geschweige denn, dass ihr Folge geleistet wird. Gerade vor dem Hintergrund dieses Problems spricht H.L.A. Hart von einem „schützenden Perimeter“ (protective perimeter), der gegebenenfalls zur Sicherung eines Freiheitsrechtes errichtet werden muss. Gleiches gilt im Übrigen auch für das Recht auf Einwanderung, sofern das Interesse an Bewegungsfreiheit schwerer wiegt als das Interesse der Staatsbürger, über Fragen der Zugehörigkeit zu entscheiden. Stets geht es um das Abwägen dieser zwei Interessen. Wie viel Bedeutung wir der demokratischen Entscheidungsautonomie beimessen, ist letztlich entscheidend. Misst man ihr wenig Bedeutung bei, so ist es durchaus folgerichtig vom demos zu verlangen, dass Fragen der Mitgliedschaft nicht mehr zum Gegenstand demokratischer Meinungsbildung und Entscheidung gemacht werden. Damit wäre die Gefahr gebannt, dass moralisch falsche Entscheidungen getroffen werden. Dafür spricht zudem der Umstand (auf den sich Brezger beruft), dass in modernen Demokratien ohnehin nicht jedes Recht der demokratischen Deliberation unterzogen ist. Allerdings geht es hier um einen Kernbereich politischer Selbstbestimmung – die Frage der Zugehörigkeit – und damit zugleich um die Frage, welchen Wert wir der demokratischen Methode beimessen. Mit anderen Worten, wer sich für eine ausnahmslose Justizialisierung der Fragen von Zugehörigkeit ausspricht, setzt sich einem ‚slippery-slope’-Problem aus. Wieso sollten dann nicht alle grundrechtsrelevante Politikbereiche (einschließlich z.B. der Grundsicherung, des Arbeitsrechtes und des Umweltschutzes) der demokratischen Verfügbarkeit entzogen werden?

Oliviero Angeli ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte der TU Dresden. Sein Forschungsinteresse gilt insbesondere den modernen Demokratie- und Verfassungstheorien sowie Fragen der globalen Gerechtigkeit und des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

8 Kommentare zu “Das Recht auf Einwanderung und das Recht auf Ausschluss – Oliviero Angelis Replik

  1. Vorweg: eine sehr spannende Diskussion mit tollen Beiträgen! Da will man dann doch auch einsteigen und daher an dieser Stelle eine kurze Nachfrage zu den bisher entwickelten Argumenten und der Versuch einer Kritik.

    zur relativen Bedeutung konfligierender Interessen als Entscheidungskriterium:

    2 Thesen, die nach meinem Lektüreverständnis vertreten werden:

    1) Bürger haben ein Recht auf die Ausübung ihrer politischen Autonomie bezogen auf die Zugangskriterien ihres Gemeinwesens. Dieses Recht ist im Interesse der Bürger an ihrer individuellen Autonomie begründet.
    2) Autonomie ist eine graduelle Kiste und hat mit der Verfügbarkeit einer hinreichenden Breite an Handlungsoptionen zu tun.

    Dazu folgende Frage: wenn es um die politische Autonomie insgesamt geht, würde die Einschränkung der Entscheidungsrechte der Bürger um einen Regelungsbereich (Einwanderung), ihre politische Autonomie doch wohl kaum verringern. Wir gehen dabei ja davon aus, dass es noch eine hinreichende Breite an Entscheidungsoptionen bezogen auf andere Politikbereiche gegeben ist.

    Hier kommt aber wohl zwei weitere Thesen ins Spiel:

    3) Für die Evaluierung individueller (und kollektiver) Autonomie ist zusätzlich (zur Breite der Handlungsoptionen) ausschlaggebend, dass Akteure Handlungsoptionen in Hinblick auf inhaltlich besonders gewichtige oder für sie sehr bedeutsame Fragen haben.
    4) Fragen der Zugehörigkeit zur eigenen politischen Gesellschaft weisen für ihre Mitglieder diese besondere Bedeutsamkeit auf.

    Daraus folgt dann: Das Recht, diese Fragen zu entscheiden, weist eine gewisse Robustheit auf, wenn es mit anderen Rechten in Konflikt kommt. Diese Robustheit zeigt sich z.B. im Konflikt mit einem allgemeinen Recht auf Einwanderung und ist letztlich im Interesse an individueller Autonomie begründet.

    Insbesondere dieser letzte argumentative Schritt erscheint mir höchst problematisch. Wenn wir das Argumentationsmuster verallgemeinern, stellen wir nämlich schnell fest, dass der Wert individueller Autonomie normalerweise nicht so groß ist, wie Angeli es zumindest in meiner Rekonstruktion nahelegt. Dies liegt schlicht und ergreifend daran, dass es gerade die gewichtigen Fragen sind, die wir der Entscheidungshoheit des Demos für gewöhnlich zu entziehen suchen.
    Warum sollte bspw. die Frage welche Bürger demokratische Teilhaberechte genießen sollten für Personen, die bereits Mitglieder der politischen Gemeinschaft sind, nicht die gleiche Art von Bedeutsamkeit haben, die letztlich für die Evaluierung der graduellen Ausprägung ihrer individuellen Autonomie entscheidend ist? Wenn dies so ist, folgt aus dem Autonomieargument, dass Bürger ein besonders robustes Recht haben, über die demokratische Teilhaberechte anderer Bürger zu entscheiden!! Dasselbe gilt für alle möglichen Grundrechte, die ja eben gerade den Bereich der besonders gewichtigen politischen Fragen abdecken.
    Dies ist eine reductio ad absurdum des autonomiebasierten Argument für ein Recht auf Ausschluss.

    Nochmal kurz und bündig:
    Allgemein gesprochen ist es zunächst völlig plausibel, zu sagen, dass die Möglichkeit gewichtige Entscheidungen zu treffen, mit dafür entscheidend ist, wie autonom eine Person ist. Gleichzeitig werden aber, je gewichtiger Entscheidungen sind, die Werte, die überhaupt erst das Gewichtige an der Entscheidung ausmachen, umso einflussreicher in der Beurteilung, ob eine Person die Entscheidung autonom treffen können sollte. Das legt nahe, dass Autonomie ein wesentlich fragilerer Wert ist, als in Angelis Argument angenommen.

  2. noch eine Frage dem Verhältnis zwischen dem Recht auf Ausschluss und der Pflicht, demokratische Entscheidungen zu repektieren:
    Why doesn’t „the right to do wrong“ cut both ways?

  3. Eine spannende Diskussion! Gerade am Mittwoch haben wir bei unserem wöchentlichen Treffen darüber diskutiert, ob wir Freizügigkeit in unsere Vereinsstatuten und damit unsere politische Agenda aufnehmen wollen.

    Wir, Egality Berlin, wollen uns in erster Linie dafür stark machen, dass alle Menschen ein demokratisches Mitbestimmungsrecht erhalten in Fragen, die ihr Dasein betreffen – insbesondere in der Rolle als WeltbürgerIn. Unser Fokus liegt darauf die heutige internationale Ordnung anzuprangern und Demokratiedefizite sowie deren Konsequenzen aufzuzeigen; aber wir sind natürlich auch darum bemüht, uns mit den unterschiedlichen Konzepten einer demokratischen Weltordnung auseinander zu setzen; und auf welchen Grundrechten eine solche Ordnung aufbauen sollte, ist definitiv keine banale Frage: Wo sollten Mehrheitsentscheidungen eingeschränkt werden und wie werden Mehrheiten definiert? Ist Freizügigkeit ein Grundrecht oder gibt es ein Recht auf Ausschluss? Bezieht sich dieses Recht auf Territorialstaaten oder auch auf andere Gemeinschaften? Gibt es einen Widerspruch zwischen Demokratie und einem Recht auf Freizügigkeit und wenn ja, wie könnte damit umgegangen werden? Welche Rechte impliziert Freizügigkeit, insbesondere welche politischen Partizipationsrechte? etc.
    Die hier publizierte Debatte werden wir bei unserem nächsten Lesetreffen besprechen und schauen, ob wir in der Gruppe zu einem Konsens kommen.

    ps: Übrigens waren alle von uns, die beim letzten Treffen waren, von einem moralischen Recht auf Einwanderung überzeugt. Wir waren uns nur nicht sicher, ob Freizügigkeit Bedingung für eine demokratische Welt ist oder ob es lediglich eine mögliche Folge einer demokratischen Welt sein könnte.

  4. @Martin

    Vielen Dank für die kritischen Anmerkungen. Ich weiß nicht, ob ich die Fragen in der Kürze zufriedenstellend beantworten kann, aber ich gebe mir Mühe. Zunächst zur ersten Frage.

    Thesen 3 und 4 sind tatsächlich problematisch, da sie unterstellen, dass der Autonomiebegriff uns ein Kriterium an die Hand gibt, mit dem wir bestimmen können, welche politische Fragen „inhaltlich besonders gewichtig“ sind.

    Gehen wir aber zunächst im Argument wieder einen Schritt zurück. Wenn wir davon ausgehen, dass eine Person ein Recht R zu einer Entscheidung E hat, dann begründen wir dieses Recht oftmals mit dem Verweis auf die Bedeutung der Entscheidung E. Ich bin in meinem ZPTH –Artikel einen anderen Weg gegangen. Mir ging es um die Bedeutung des Rechts R, also des Entscheidungsspielraums, und nicht um die Art der Entscheidung. Der benannte Weg macht es mir einfacher, demokratische Rechte zu begründen. Aber zugleich habe ich mir ein Problem eingehandelt, auf das mich Ebeling und auch Brezger hingewiesen haben: Was unterscheidet dann das Recht R auf H vom Recht R1 auf H1? Oder, um ein Beispiel anzuführen, was unterscheidet dann das Recht auf Ausschluss vom Recht auf die Etikettierung von Mehrwegflaschen? Nun, ich habe die Bedeutung dieser Fragen tatsächlich etwas unterschätzt. Ich bin allerdings indirekt darauf eingegangen und zwar an den Stellen, wo ich die Bedeutung der Selbstständigkeit (independence) als eine zentrale Bedingung der Autonomie unterstrichen habe. Autonomie bedeutet nicht nur, dass man über wertvolle Optionen verfügt. Sie impliziert auch die Anerkennung des Anderen als moralisch urteilender Person. Auf die Demokratie übertragen impliziert diese Form der Selbstständigkeit, dass Anderen zugetraut wird, eine fundierte, abweichende Meinung zu haben. Diese Form der Anerkennung kommt vor allem dann zur Geltung, wenn die Meinungen auseinander gehen und zwar so auseinander, dass die Einengung der demokratischen Entscheidungsfähigkeit als eine Form paternalistischer Fremdbestimmung wahrgenommen wird.

  5. @ Egality Berlin: Ladet doch einfach mal einen Philosophen zu Euch ein, der zu dem Thema arbeitet 😉

    @ Oliviero:

    Vielen Dank für die Antwort! Zum Teil überrascht sie mich, zum Teil geht sie, denke ich, in die richtige Richtung (wobei sich die beiden Optionen natürlich nicht gegenseitig ausschließen ;)).

    Die Überraschung:

    “Thesen 3 und 4 sind tatsächlich problematisch, da sie unterstellen, dass der Autonomiebegriff uns ein Kriterium an die Hand gibt, mit dem wir bestimmen können, welche politische Fragen „inhaltlich besonders gewichtig“ sind.”

    Das hatte ich bisher gar nicht so verstanden. Vielmehr war mein Punkt, dass ganz unabhängig davon, wie wir “inhaltlich besonders wichtig” kriterial bestimmen, dein Argument eine problematische Struktur aufweist. Die Problematik besteht darin, dass das Recht demokratische Entscheidungen zu treffen proportional zum Gewicht der Entscheidung zunimmt – und das auch in Fällen, bei denen wir normalerweise unter Bezug auf das Gewicht der Entscheidung (und der involiverten Interessen anderer) sagen würden, dass es eher schwächer wird. Fundamental ist das Problem also vielleicht eher, überhaupt ein Entscheidungsrecht auf ein Interesse an Autonomie (im Sinne von adäquaten Entscheidungsoptionen über gewichtige Fragen) zu stützen. – Gut, darüber könnte man noch lange schreiben und ein Blog ist vielleicht nicht das richtige Format dazu…

    Der mir sympathische Punkt:

    Ich denke, deiner Forderung nach der Anerkennung der Anderen als moralisch urteilender Person kommt eine epistemische Dimension zum Ausdruck, die dem Ideal demokratischer Entscheidungsfindung unterliegt. Wir betrachten die Andere als hinreichend kompetent im Fällen moralischer Urteile. Allerdings, so würde ich ergänzen, tun wir dies nur, solange unsere Meinungsverschiedenheiten auf Bereiche begrenzt sind, in denen wir uns selbst keine übermäßig hohe epistemische Reliabilität zuschreiben. Das Recht auf demokratisches Entscheiden wollen wir dort begrenzen, wo wir uns sicher sind, dass die Andere in ihrem Urteil irrt. Wir schreiben dieses Recht also nicht zu, wenn wir sicher sind, dass gewisse Rechte anderer eines besonderen Schutzes bedürfen. Dies ist nicht nur in der Bedeutung der geschützen Rechte für andere begründet, sondern auch in unserem Vertrauen in das Urteil, dass diese Rechte auf Grund ihrer Bedeutung besonders schützenswert sind.
    Insofern ist die Diskussion über ein Recht auf Ausschluss und ein Recht auf Einwanderung – genauso wie die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Demokratie – AUCH eine über unsere Urteilsvermögen. Um ein Recht auf Entscheidung einzufordern, muss man zumindest annehmen, dass man diese Frage entscheiden kann (im Sinne der dafür Notwendigen Kompetenz).

  6. @ Oliviero:

    Vielen Dank für die ausführliche und detaillierte Replik! Auch wenn die Diskussion nun schon vorangeschritten ist, möchte ich nochmals auf die Replik Bezug nehmen und auf drei Punkte eingehen, wobei der erste die dritte kritische Nachfrage meines Kommentars nochmals aufnimmt.

    (1) Ich teile Deine (und Raz‘) Ansicht, Autonomie sei „a matter of degree“. Allerdings scheint mir in der Verwendung und Bewertung der Unabhängigkeit/Selbstständigkeit (independence) eine Unklarheit zu bestehen. Einerseits wird sie von Dir an manchen Stellen stark gemacht und als Raz‘ dritte Autonomiebedingung gesondert ausgewiesen (so etwa in Deiner Antwort auf Martin Ebeling, in der Du schreibst, die independence impliziere „auch die Anerkennung des Anderen als moralisch urteilender Person“). Andererseits fällt die independence an anderen Stellen mit der zweiten Autonomiebedingung, also der Existenz einer angemessenen Bandbreite an wertvollen Handlungsoptionen, zusammen. So heißt es in Deiner Replik: „Weniger klar ist, wann diese Einschränkung der Bewegungsfreiheit den Charakter einer Zwangsausübung annimmt. Ein Indiz dafür ist das Fehlen einer adäquaten Bandbreite an alternativen Optionen.“ Und „das Fehlen dieser adäquaten Bandbreite an alternativen Optionen“ komme „letzlich einer Aberkennung der moralischen Selbstständigkeit (independence) als Bedingung der Autonomie“ gleich.

    Der Punkt, auf den ich hinaus möchte, ist mehr als ein rein konzeptueller (oder Raz-exegetischer): Wenn wir die Bewegungsfreiheit als Grundfreiheit begreifen (was wir meines Erachtens tun sollten), ist nicht nur eine angemessene Bandbreite an wertvollen Optionen notwendig, sondern auch Unabhängigkeit (independence). Sofern letzteres nicht mit ersterem zusammenfällt, bedeutet dies aber, dass jede Person ihren Aufenthaltsort frei wählen darf. Es ist nicht hinreichend, wenn wir lediglich mehrere Alternativen zur Auswahl haben, wir wollen vielmehr selbst über unseren Lebensmittelpunkt entscheiden. Das lässt sich am Beispiel der innerstaatlichen Bewegungsfreiheit verdeutlichen: Von Bewegungsfreiheit sprechen wir nicht bereits dann, wenn wir zwischen einigen Orten wählen können. Wenn mir der Umzug nach Bremen untersagt wird, ändert es nichts an der Tatsache der Beschneidung meiner Bewegungsfreiheit, wenn ich sonst in alle anderen Orte Deutschlands hätte ziehen dürfen (vgl. Ladwig 2012:70, der dort auf Andreas Cassee verweist). Sofern aber die Unabhängigkeit eingeschränkt wird, kann dies mit Abizadeh (2010: 126) als Eingriff in die Autonomie begriffen werden, der einen Anspruch auf Partizipation generiert.

    Doch selbst wenn die zweite und dritte Autonomiebedingung letztendlich identisch wären (bzw. das eine ein Indiz für das andere) und das Vorhandensein von wertvollen Handlungsalternativen bereits als hinreichendes Kriterium für Autonomie gälte, kaufte man sich damit folgendes Problem kollektiven Handelns ein: Jeder Staat könnte argumentieren, die Schließung der eigenen Grenzen greife nicht in die Autonomie der potentiellen MigrantInnen ein, da es genügend andere Zielländer gäbe. Wenn dies allerdings alle Staaten gleichzeitig tun, kann niemand von seiner/ihrer Bewegungsfreiheit Gebrauch machen. Wie sollte dann aber das für die Autonomie notwendige Minimum an verfügbaren Optionen sichergestellt werden?

    (2) Mir scheint in Bezug auf die Begründung von Rechten eine Spannung zwischen einer Interessen- und einer Willenskonzeption zu bestehen (so verstehe ich auch Martins letzten Beitrag). Zum einen folgst Du Raz‘ interessenbasiertem Rechtsbegriff (FN 16), zum anderen verweist Du in Deiner Replik auch auf Hart, wenn es um demokratische Rechte geht. Mir ist nicht ganz klar, ob bzw. wie man diese Spannung auflösen kann oder ob sie dem Interesse an Autonomie, die als Entscheidungsfreiheit definiert wird, konzeptuell innewohnt.

    (3) Zuletzt möchte ich noch kurz auf das „Slippery-slope“-Problem eingehen, das sich aus dem Plädoyer für eine (relative) Unverfügbarkeit der Menschen- bzw. Grundrechte zu ergeben scheint: Ich denke nicht, dass dies der Fall ist. Schließlich sind Menschenrechte notwendigerweise relativ abstrakt, sodass sich im Rahmen jeder nationalstaatlichen Positivierung eine kontextsensitive Konkretisierung vollzieht. Insofern ist ein gewisser Kern tatsächlich unverfügbar. Allerdings kommen demokratische Mechanismen ins Spiel, sobald es um die Interpretation und die Implikationen dieser Grundsätze geht (hier existieren zahlreiche Räume vernünftiger Nichtübereinstimmung).

  7. Ich stimme mit vielem überein, was von Euch gesagt wurde. Einige kurze Anmerkungen:

    @Martin

    Du betonst, dass die Entscheidungsautonomie speziell in den Fällen an Bedeutung gewinnt, in denen wir uns oftmals gezwungen sehen, sie zu beschneiden – und zwar aufgrund der erheblichen negativen Folgen moralisch verwerflicher Entscheidungen (man denke nur an die Abschiebung von politisch Verfolgten). Dem stimme ich zu. Ich sehe darin auch keinen Widerspruch. Entscheidungsautonomie ist keine Alles-oder-Nichts-Angelegenheit. So gesehen ging es mir im ZPTH-Artikel darum, deutlich zu machen, dass die Bedeutung begrenzter Entscheidungsspielräume proportional zum Grad der politischen Auseinandersetzung zunimmt. Den Hinweis auf die Notwendigkeit dieser Präzisierung verdanke ich Deinen kritischen Anmerkungen.
    Du fragtest auch: Doesn’t “the right to do wrong” cut both ways? Gute Frage. Ich würde sie tendenziell verneinen. Die Notwendigkeit des „right to do wrong“ ergibt sich m.E. aus der Feststellung eines Null-Summen-Spiels zwischen zwei sich widersprechenden Rechten: Wenn es ein autonomiebasiertes Recht auf Einwanderung gibt, dann kann es kein autonomiebasiertes Recht auf Ausschluss geben. Wenn aber beide Rechte eine Existenzberechtigung haben, dann muss ein Recht eingeschränkt werden. Es ist naheliegend, dass es sich dabei um das Recht handelt, das in der Regel überwiegen sollte. Im vorliegenden Fall: das Recht auf Einwanderung. Deswegen war es mir wichtig, dem Recht auf Ausschluss enge Zügel anzulegen. Right to do wrong, but not any wrong.

    @Jan

    Ich stimme Dir in vielen Punkten zu.

    Deine Begründung des Rechts auf Einwanderung entspricht weitestgehend meiner Auffassung (wie ich sie im Abschnitt 3 dargelegt habe). Unsere Meinungen gehen auseinander, wenn es auf die Gewichtung der rechtsbegründenden Interessen ankommt.

    Zum Begriff „independence“: Dieser Begriff spielt m.E. eine wichtige Rolle bei der Bestimmung dessen, was unter einer angemessenen Bandbreite an wertvollen Handlungsoptionen verstanden werden soll. Es gibt Situationen in denen wir mit relativer Sicherheit sagen können, dass eine Person objektiv nicht über eine angemessene Anzahl an wertvollen Handlungsoptionen verfügt (Raz beschreibt solche Situationen anhand von zwei hypothetischen Beispielen). Es gibt aber auch Situationen, in denen wir mit vermeintlich objektiven Kriterien nicht sehr weit kommen. Hier hilft uns die Idee der independence weiter. Wie? Indem sie deutlich macht, dass die Unterbindung einer oder mehrerer spezifischen Optionen in manchen Situationen einer Aberkennung unserer Autonomie als moralisch urteilende Personen gleichkommt. An dieser Stelle gehst Du (wie auch Abizadeh) ein Schritt weiter (wenn ich Dich richtig verstanden habe) und behauptest, dass die Unterbindung jeder Option letztlich in die Aberkennung unserer Autonomie mündet. Das scheint mir, wie ich sagte, eine unnötige Überdehnung des Autonomiebegriffs.

    Zu Hart: Ich teile nicht Harts Willenskonzeption des Rechts. Ich habe lediglich die Idee eines „schützenden Perimeters“ (protective perimeter) übernommen. Diese scheint mir mit einer Interessenkonzeption des Rechts durchaus kompatibel.

  8. Hallo Herr Angeli,

    ich würde Ihnen gern mal mein Modell vom i-Markt vorstellen.
    Benötige zum Senden der Präsentation eine Emailadresse.

    mfg

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