theorieblog.de | Qualitätsfernsehen aus Sicht politischer Theorie

26. Juli 2012, Oldenbourg

MCNULTY „Lemme understand you. Every Friday night, you and your boys would shoot crap, right. And every Friday night, your pal Snotboogie would wait until there was some cash on the ground. Then he would grab the money and run away.“
WITNESS nods.
MCNULTY: „You let him do that?“
WITNESS: „We catch him and beat his ass. But ain’t nobody never go past that.“
MCNULTY: „I gotta ask you. If every time Snotboogie would grab the money and run away, why did you even let him in the game?“
WITNESS: „What?“
MCNULTY: „If Snot always stole the money, why did you let him play?“
WITNESS: „Got to. This America, man.“

Mit diesem Dialog endet die erste Szene von The Wire. Und mit dem Würfelspiel der Jungs der Straße ist das Thema dieser Fernsehserie über das postindustrielle Baltimore eingeführt: The Game. Das Spiel, dessen Regeln man befolgen muss, wozu allzu oft der Bruch formeller Spielregeln gehört, sofern das einen Gewinn verspricht. Und auch wenn es nicht viele Nettogewinner gibt, hat zumindest jeder das Recht mitzuspielen.

Mit der zitierten Szene begann auch Daniel Eschkötter die Vorstellung seines Buches über The Wire im Rahmen einer Präsentation der Reihe booklet Anfang Juni im Berliner Hbc. Diese im Zürcher diaphanes Verlag erscheinende Reihe will nachliefern, was die deutschsprachige Zuschauerin in den DVD-Boxen sogenannter Qualitätsserien vergeblich sucht: Lektüre zur Serie. Den Anfang dieses im letzten Jahrzehnt erblühten Genres machten The Sopranos über New Jerseys Mafia und die Panikattacken ihres Bosses Tony. In booklet wird dies von Diedrich Diederichsen besprochen. Theorie meets Popkultur; so nennt sich die Rubrik, in der dieser Beitrag erscheint. Die Nennung Diederichsens als Paten deutschsprachiger Poptheorie mag daran erinnern, dass Popkultur in Deutschland spätestens seit den 1980er Jahren theoretisiert wird, die Poptheorie inzwischen selbst avanciert ist. Nach Diederichsen sind Qualitätsserien einem breiten Publikum zugänglich, haben aber einen ästhetischen Mehrwert, der ihre intellektuelle Durchdringung nahelegt (vgl. dazu auch den Artikel von Theorieblog-Teammitglied Susanne Schmetkamp in der Basler Zeitung, hier der link zum pdf). Dass die Serien in der booklet Reihe auf hohem Niveau besprochen werden, ist sicher auch ihrem Herausgeber Simon Rothöhler zu verdanken. Dieser hat den dritten bisher erschienenen Band zu The West Wing – einer Serie über den fiktiven, liberalen US-Präsidenten Jed Bartlet – selbst verfasst. Alle drei Autoren legen plausible Deutungen ihrer Serie vor, ordnen sie sinnvoll in ihren popkulturellen Verweisungszusammenhang ein und analysieren neben der filmischen Darstellung auch die Produktionsbedingungen. Dies lässt sich in den kurzen, gut geschriebenen Essays wunderbar nachlesen. Konzentrieren will ich mich daher auf die Perspektive politischer Theorie. Ein Vergleich von West Wing und The Wire bietet sich dafür an.

Die von Aaron Sorkin geschaffene Serie The West Wing lief in sieben Staffeln von 1999 bis 2006 auf NBC. Neben Präsident Bartlet dreht sich der Plot um seine engsten Mitarbeiter: Etwa um seinen stellvertretenden Stabschef Josh Lyman, der kaum eine Gelegenheit auslässt, auf seine Ivy-League-Abschlüsse zu verweisen – dabei aber stets sympathisch bleibt; oder die hochgewachsene CJ Gregg als seine Pressesprecherin – die ihren Codenamen Flamingo allerdings nicht, wie Rothöhler meint, von der CIA, sondern vom sonst eher humorlosen Secret Service verpasst bekommen hat. Wichtiger ist Rothöhlers Hinweis, dass West Wing nicht zuletzt von Kollegen handelt, die sich mögen und kleinere Reibereien gerne zwanglos mit dem besseren Aperçu austragen, etwa wenn CJ Josh einen: „elitist Harvard fascist missed-the-Dean’s-list-two-semesters-in-a-row yankee jackass“ (WW 1.3) nennt.

Politisch beschreibt Rothöhler Bartlets West Wing so naheliegend wie zutreffend als eine Art ideal-liberale Präsidentschaft unter den nicht-idealen Bedingungen real-existierender Institutionen. Der Administration gelingen selbst bei einem mehrheitlich republikanischen Kongress Erfolge, wie ein Bankenregulationsgesetz oder die Berufung eines linksliberalen Richters an den Supreme Court. Der Slogan für diese Politik lautet: Practical Idealism. Wenn Probleme auftauchen, belässt es der Stabschef gerne bei einem schlichten „deal with it“. Dass zum alltäglichen Geschäft in einem präsidentiellen System dann auch Deals mit Kongressmitgliedern gehören, die aus Policyperspektive eher kurios erscheinen, verschweigt die Serie nicht. Das geschieht aber meist im Dienst der guten Sache, von der Verschärfung der Waffengesetzgebung bis zur Rettung der Sesamstrasse.

Zu Beginn der Serie spiegelt sich in West Wing noch der Optimismus der späten 1990er Jahre unter Clinton. Später steigt die Diskrepanz zwischen Bartletideal und Bushrealität zusehends. Laut West Wing liegt das aber weder an den ehrwürdigen Institutionen der amerikanischen Demokratie, noch an jüngeren Kontextbedingungen wie dem Newscycle. Letzteres ein Kontext, den Sorkin am Beispiel des Fernsehjournalismus in seiner gerade neu angelaufenen Serie The Newsroom vertieft. Auch dort ist es das Personal, das die normativen Gehalte von Institutionen entweder tugendhaft ausschöpft oder skrupellos pervertiert. The West Wing stellt daher nie die Systemfrage. Vielleicht ist gerade das ihr großer Wert: Sie veranschaulicht, welche Ideale in liberalen Demokratien institutionalisiert sind. So passt es gut, wenn Rothöhler auf Ronald Dworkins Buch Is Democracy Possible Here? verweist. In Anbetracht zunehmender Polarisierung in den USA sucht Dworkin darin nach geteilten Grundlagen und landet bei seinen beiden Prinzipien von moralischer Gleichheit und Eigenverantwortung. Diese sollen im Verfassungsstaat von den politischen Strömungen dann je unterschiedlich interpretiert werden. Im idealisierten Fernsehbild der amerikanischen Demokratie gelingt am Beispiel des moderaten Republikaners Arnie Vinick selbst das.

Vom normativ einigermaßen intakten West Wing ist das Rathaus Baltimores in The Wire denkbar weit entfernt. Zwar gibt es auch hier mit Tommy Carcetti einen Kandidaten, der den Wandel erstrebt. Einmal ins Rathaus gelangt, wird sein Handeln jedoch weitgehend von seinem nächsten Karriereschritt bestimmt, das Gouverneursamt in Annapolis zu erringen. Die von dem ehemaligen Polizeireporter David Simon kreierte Serie handelt von dem Niedergang des öffentlichen Lebens in einer schrumpfenden Stadt. Durchgespielt wird dies an fünf Institutionen: Polizei, Hafen, Rathaus, Schule, Zeitung. Diese stehen in jeweils einer Staffel im Mittelpunkt, werden dabei aber stets in ihrer wechselseitigen Bedingtheit betrachtet. Quer dazu verläuft in allen fünf Staffeln das Leben auf der Straße, vor allem das Drogengeschäft. Dieses ist selbst institutionalisiert und verfügt mittels hierarchischer Handlungskoordination auch über Prozeduren verbindlicher Entscheidungsfindung. Für die meist afroamerikanischen Drogenkönige ergeben sich diese Entscheidungen aus ihrem eigenen Game – in dem dann auch Morde opportun erscheinen, um die Krone zu behalten. Die moralische Verwerflichkeit dessen fällt nicht unter den Tisch. Wie Eschkötter verdeutlicht, wird aber ebenso nachvollziehbar, wie weit die Akteure durch die institutionellen Zusammenhänge bestimmt werden, in denen sie sich bewegen. Selten wurde die Sozialisation von Drogenhändlern und ihren Kunden so genau gezeigt.

Theoretisch belässt es Eschkötter bei begrifflichen Anleihen von Bourdieu, Foucault oder Luhmann. Und tatsächlich lassen sich einzelne Versatzstücke immer wieder auf Aspekte der Serie anwenden, etwa wenn Eschkötter auf die Bedeutung des symbolischen Kapitals der Repräsentation im Gangstertum aufmerksam macht. Aus systemtheoretischer Perspektive ist vor allem der bestimmende Einfluss struktureller Faktoren auf das Gesamtgeschehen festzuhalten. Wobei die Kommunikationsmedien Geld und Macht fatalerweise in allen behandelten Subsystemen zentrale Rollen spielen. Das allgemeine Thema des Games ist jedoch zunächst schlicht spieltheoretisch zu erfassen. Es handelt sich dann um eine institutionalisierte Konstellation, in der strategisch handelnde Akteure ihre Interaktionen zu antizipieren versuchen, um auf dieser Basis optimale Entscheidungen zu treffen. Erste Präferenz ist dabei stets das eigene Vorankommen. Zumindest gilt das für die oberen Etagen – wobei auch außerhalb der Straße die informellen Regeln oft entscheidend sind. Der normative Gehalt von The Wire liegt damit kaum in der moralischen Vortrefflichkeit seiner Führungspersönlichkeiten. Eschkötter verortet ihn vielmehr in der dichten Beschreibung der Stadt selbst:

„The game is the game. Always. Was aber tatsächlich bleibt, was zählt, ist, wie es mit Praktiken, Sprechakten, mit Geschichte, mit Leben gefüllt ist. Was bleibt, ist Mannigfaltigkeit. Das Gewimmel. Die Lebensformen der Stadt. All die Figuren, Menschen, Namen (…). Eine Gerechtigkeit der Stimmenverteilung – so selten das Leben in The Wire auch >gerecht< sein mag, »life just be that way« (TW 1.1).“ (Eschkötter 2012: 82)

Eine unpolitischere Aussage als die letzte lässt sich kaum treffen. Geäußert wird sie vom Zeugen in der eingangs angeführten Eröffnungsszene. Die nachfolgenden sechzig Stunden Spielzeit veranschaulichen, wie er darauf kommt. In The West Wing treiben noch klassisch die Protagonisten der Serie die Handlung voran, dem entspricht dann politisch der fast schon naive Liberalismus Aaron Sorkins. In The Wire hingegen wird die Handlung weitgehend durch gesellschaftliche Strukturen bestimmt. Dies führt bei manchen Figuren zu einem Zynismus, wie er bisweilen der Systemtheorie zugeschrieben wird. Es gibt aber auch kleinere Erfolge von Menschen, die gegen strukturelle Vorgaben ankämpfen. Wie sich solche Kämpfe mit einer moralischeren Handlungsweise gesellschaftlicher Eliten verbinden ließen ohne dabei den Blick für Funktionen gesellschaftlicher Strukturen zu verlieren, wird bisher von keiner Fernsehserie geleistet. Das zählt aber auch kaum zum Kerngeschäft des Drehbuchschreibens.

–– In der booklet Reihe des diaphanes Verlags sind für jeweils 10 Euro bisher erschienen: Diedrich Diederichsen: The Sopranos, 112 S. Simon Rothöhler: The West Wing, 96 S. Daniel Eschkötter: The Wire. 96 S. Im Herbst sollen weitere Bücher erscheinen zu: Seinfeld (Bert Rebhandl), Homicide (Dominik Graf) und Lost (Dietmar Dath).
–– Die Serie The Sopranos wurde von David Chase kreiert und lief von 1999 bis 2007 in sechs Staffeln auf HBO. The Wire lief ebenfalls auf HBO; von 2002 bis 2008 erschienen fünf Staffeln. The West Wingwurde von Aaron Sorkin kreiert und lief von 1999 bis 2006 in 7 Staffeln auf NBC.

Andreas Oldenbourg arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner SFB 700 im Bereich politischer Theorie und schreibt eine Dissertation zu kollektiver Selbstbestimmung und der Rechtfertigung von Sezessionen.


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