Qualitätsfernsehen aus Sicht politischer Theorie

MCNULTY „Lemme understand you. Every Friday night, you and your boys would shoot crap, right. And every Friday night, your pal Snotboogie would wait until there was some cash on the ground. Then he would grab the money and run away.“
WITNESS nods.
MCNULTY: „You let him do that?“
WITNESS: „We catch him and beat his ass. But ain’t nobody never go past that.“
MCNULTY: „I gotta ask you. If every time Snotboogie would grab the money and run away, why did you even let him in the game?“
WITNESS: „What?“
MCNULTY: „If Snot always stole the money, why did you let him play?“
WITNESS: „Got to. This America, man.“

Mit diesem Dialog endet die erste Szene von The Wire. Und mit dem Würfelspiel der Jungs der Straße ist das Thema dieser Fernsehserie über das postindustrielle Baltimore eingeführt: The Game. Das Spiel, dessen Regeln man befolgen muss, wozu allzu oft der Bruch formeller Spielregeln gehört, sofern das einen Gewinn verspricht. Und auch wenn es nicht viele Nettogewinner gibt, hat zumindest jeder das Recht mitzuspielen.

Mit der zitierten Szene begann auch Daniel Eschkötter die Vorstellung seines Buches über The Wire im Rahmen einer Präsentation der Reihe booklet Anfang Juni im Berliner Hbc. Diese im Zürcher diaphanes Verlag erscheinende Reihe will nachliefern, was die deutschsprachige Zuschauerin in den DVD-Boxen sogenannter Qualitätsserien vergeblich sucht: Lektüre zur Serie. Den Anfang dieses im letzten Jahrzehnt erblühten Genres machten The Sopranos über New Jerseys Mafia und die Panikattacken ihres Bosses Tony. In booklet wird dies von Diedrich Diederichsen besprochen. Theorie meets Popkultur; so nennt sich die Rubrik, in der dieser Beitrag erscheint. Die Nennung Diederichsens als Paten deutschsprachiger Poptheorie mag daran erinnern, dass Popkultur in Deutschland spätestens seit den 1980er Jahren theoretisiert wird, die Poptheorie inzwischen selbst avanciert ist. Nach Diederichsen sind Qualitätsserien einem breiten Publikum zugänglich, haben aber einen ästhetischen Mehrwert, der ihre intellektuelle Durchdringung nahelegt (vgl. dazu auch den Artikel von Theorieblog-Teammitglied Susanne Schmetkamp in der Basler Zeitung, hier der link zum pdf). Dass die Serien in der booklet Reihe auf hohem Niveau besprochen werden, ist sicher auch ihrem Herausgeber Simon Rothöhler zu verdanken. Dieser hat den dritten bisher erschienenen Band zu The West Wing – einer Serie über den fiktiven, liberalen US-Präsidenten Jed Bartlet – selbst verfasst. Alle drei Autoren legen plausible Deutungen ihrer Serie vor, ordnen sie sinnvoll in ihren popkulturellen Verweisungszusammenhang ein und analysieren neben der filmischen Darstellung auch die Produktionsbedingungen. Dies lässt sich in den kurzen, gut geschriebenen Essays wunderbar nachlesen. Konzentrieren will ich mich daher auf die Perspektive politischer Theorie. Ein Vergleich von West Wing und The Wire bietet sich dafür an.

Die von Aaron Sorkin geschaffene Serie The West Wing lief in sieben Staffeln von 1999 bis 2006 auf NBC. Neben Präsident Bartlet dreht sich der Plot um seine engsten Mitarbeiter: Etwa um seinen stellvertretenden Stabschef Josh Lyman, der kaum eine Gelegenheit auslässt, auf seine Ivy-League-Abschlüsse zu verweisen – dabei aber stets sympathisch bleibt; oder die hochgewachsene CJ Gregg als seine Pressesprecherin – die ihren Codenamen Flamingo allerdings nicht, wie Rothöhler meint, von der CIA, sondern vom sonst eher humorlosen Secret Service verpasst bekommen hat. Wichtiger ist Rothöhlers Hinweis, dass West Wing nicht zuletzt von Kollegen handelt, die sich mögen und kleinere Reibereien gerne zwanglos mit dem besseren Aperçu austragen, etwa wenn CJ Josh einen: „elitist Harvard fascist missed-the-Dean’s-list-two-semesters-in-a-row yankee jackass“ (WW 1.3) nennt.

Politisch beschreibt Rothöhler Bartlets West Wing so naheliegend wie zutreffend als eine Art ideal-liberale Präsidentschaft unter den nicht-idealen Bedingungen real-existierender Institutionen. Der Administration gelingen selbst bei einem mehrheitlich republikanischen Kongress Erfolge, wie ein Bankenregulationsgesetz oder die Berufung eines linksliberalen Richters an den Supreme Court. Der Slogan für diese Politik lautet: Practical Idealism. Wenn Probleme auftauchen, belässt es der Stabschef gerne bei einem schlichten „deal with it“. Dass zum alltäglichen Geschäft in einem präsidentiellen System dann auch Deals mit Kongressmitgliedern gehören, die aus Policyperspektive eher kurios erscheinen, verschweigt die Serie nicht. Das geschieht aber meist im Dienst der guten Sache, von der Verschärfung der Waffengesetzgebung bis zur Rettung der Sesamstrasse.

Zu Beginn der Serie spiegelt sich in West Wing noch der Optimismus der späten 1990er Jahre unter Clinton. Später steigt die Diskrepanz zwischen Bartletideal und Bushrealität zusehends. Laut West Wing liegt das aber weder an den ehrwürdigen Institutionen der amerikanischen Demokratie, noch an jüngeren Kontextbedingungen wie dem Newscycle. Letzteres ein Kontext, den Sorkin am Beispiel des Fernsehjournalismus in seiner gerade neu angelaufenen Serie The Newsroom vertieft. Auch dort ist es das Personal, das die normativen Gehalte von Institutionen entweder tugendhaft ausschöpft oder skrupellos pervertiert. The West Wing stellt daher nie die Systemfrage. Vielleicht ist gerade das ihr großer Wert: Sie veranschaulicht, welche Ideale in liberalen Demokratien institutionalisiert sind. So passt es gut, wenn Rothöhler auf Ronald Dworkins Buch Is Democracy Possible Here? verweist. In Anbetracht zunehmender Polarisierung in den USA sucht Dworkin darin nach geteilten Grundlagen und landet bei seinen beiden Prinzipien von moralischer Gleichheit und Eigenverantwortung. Diese sollen im Verfassungsstaat von den politischen Strömungen dann je unterschiedlich interpretiert werden. Im idealisierten Fernsehbild der amerikanischen Demokratie gelingt am Beispiel des moderaten Republikaners Arnie Vinick selbst das.

Vom normativ einigermaßen intakten West Wing ist das Rathaus Baltimores in The Wire denkbar weit entfernt. Zwar gibt es auch hier mit Tommy Carcetti einen Kandidaten, der den Wandel erstrebt. Einmal ins Rathaus gelangt, wird sein Handeln jedoch weitgehend von seinem nächsten Karriereschritt bestimmt, das Gouverneursamt in Annapolis zu erringen. Die von dem ehemaligen Polizeireporter David Simon kreierte Serie handelt von dem Niedergang des öffentlichen Lebens in einer schrumpfenden Stadt. Durchgespielt wird dies an fünf Institutionen: Polizei, Hafen, Rathaus, Schule, Zeitung. Diese stehen in jeweils einer Staffel im Mittelpunkt, werden dabei aber stets in ihrer wechselseitigen Bedingtheit betrachtet. Quer dazu verläuft in allen fünf Staffeln das Leben auf der Straße, vor allem das Drogengeschäft. Dieses ist selbst institutionalisiert und verfügt mittels hierarchischer Handlungskoordination auch über Prozeduren verbindlicher Entscheidungsfindung. Für die meist afroamerikanischen Drogenkönige ergeben sich diese Entscheidungen aus ihrem eigenen Game – in dem dann auch Morde opportun erscheinen, um die Krone zu behalten. Die moralische Verwerflichkeit dessen fällt nicht unter den Tisch. Wie Eschkötter verdeutlicht, wird aber ebenso nachvollziehbar, wie weit die Akteure durch die institutionellen Zusammenhänge bestimmt werden, in denen sie sich bewegen. Selten wurde die Sozialisation von Drogenhändlern und ihren Kunden so genau gezeigt.

Theoretisch belässt es Eschkötter bei begrifflichen Anleihen von Bourdieu, Foucault oder Luhmann. Und tatsächlich lassen sich einzelne Versatzstücke immer wieder auf Aspekte der Serie anwenden, etwa wenn Eschkötter auf die Bedeutung des symbolischen Kapitals der Repräsentation im Gangstertum aufmerksam macht. Aus systemtheoretischer Perspektive ist vor allem der bestimmende Einfluss struktureller Faktoren auf das Gesamtgeschehen festzuhalten. Wobei die Kommunikationsmedien Geld und Macht fatalerweise in allen behandelten Subsystemen zentrale Rollen spielen. Das allgemeine Thema des Games ist jedoch zunächst schlicht spieltheoretisch zu erfassen. Es handelt sich dann um eine institutionalisierte Konstellation, in der strategisch handelnde Akteure ihre Interaktionen zu antizipieren versuchen, um auf dieser Basis optimale Entscheidungen zu treffen. Erste Präferenz ist dabei stets das eigene Vorankommen. Zumindest gilt das für die oberen Etagen – wobei auch außerhalb der Straße die informellen Regeln oft entscheidend sind. Der normative Gehalt von The Wire liegt damit kaum in der moralischen Vortrefflichkeit seiner Führungspersönlichkeiten. Eschkötter verortet ihn vielmehr in der dichten Beschreibung der Stadt selbst:

„The game is the game. Always. Was aber tatsächlich bleibt, was zählt, ist, wie es mit Praktiken, Sprechakten, mit Geschichte, mit Leben gefüllt ist. Was bleibt, ist Mannigfaltigkeit. Das Gewimmel. Die Lebensformen der Stadt. All die Figuren, Menschen, Namen (…). Eine Gerechtigkeit der Stimmenverteilung – so selten das Leben in The Wire auch >gerecht< sein mag, »life just be that way« (TW 1.1).“ (Eschkötter 2012: 82)

Eine unpolitischere Aussage als die letzte lässt sich kaum treffen. Geäußert wird sie vom Zeugen in der eingangs angeführten Eröffnungsszene. Die nachfolgenden sechzig Stunden Spielzeit veranschaulichen, wie er darauf kommt. In The West Wing treiben noch klassisch die Protagonisten der Serie die Handlung voran, dem entspricht dann politisch der fast schon naive Liberalismus Aaron Sorkins. In The Wire hingegen wird die Handlung weitgehend durch gesellschaftliche Strukturen bestimmt. Dies führt bei manchen Figuren zu einem Zynismus, wie er bisweilen der Systemtheorie zugeschrieben wird. Es gibt aber auch kleinere Erfolge von Menschen, die gegen strukturelle Vorgaben ankämpfen. Wie sich solche Kämpfe mit einer moralischeren Handlungsweise gesellschaftlicher Eliten verbinden ließen ohne dabei den Blick für Funktionen gesellschaftlicher Strukturen zu verlieren, wird bisher von keiner Fernsehserie geleistet. Das zählt aber auch kaum zum Kerngeschäft des Drehbuchschreibens.

–– In der booklet Reihe des diaphanes Verlags sind für jeweils 10 Euro bisher erschienen: Diedrich Diederichsen: The Sopranos, 112 S. Simon Rothöhler: The West Wing, 96 S. Daniel Eschkötter: The Wire. 96 S. Im Herbst sollen weitere Bücher erscheinen zu: Seinfeld (Bert Rebhandl), Homicide (Dominik Graf) und Lost (Dietmar Dath).
–– Die Serie The Sopranos wurde von David Chase kreiert und lief von 1999 bis 2007 in sechs Staffeln auf HBO. The Wire lief ebenfalls auf HBO; von 2002 bis 2008 erschienen fünf Staffeln. The West Wingwurde von Aaron Sorkin kreiert und lief von 1999 bis 2006 in 7 Staffeln auf NBC.

Andreas Oldenbourg arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner SFB 700 im Bereich politischer Theorie und schreibt eine Dissertation zu kollektiver Selbstbestimmung und der Rechtfertigung von Sezessionen.

5 Kommentare zu “Qualitätsfernsehen aus Sicht politischer Theorie

  1. In einigen wenigen Fällen scheint die Kombination von Firefox und Windows Probleme mit der Darstellung des Youtube-Videos zu bewirken. Durch ein Update von Firefox sollte sich das aber beheben lassen. Wenn nicht, gebt mir bitte noch mal Bescheid!

  2. Danke zunächst mal für diesen Artikel. Dass eine solche Reihe wie jene von Diaphanes folgen würde, war bei dem doch recht großen Erfolg von ‚The Wire‘ und überhaupt der entstandenen Serien-Kultur nur eine Frage der Zeit zu sein, schließlich lässt sich hiermit auch gutes Geld verdienen.

    Um eines vorweg zu nehmen: wer sich differenziert mit der Serie ‚The Wire‘ befassen will – und nur für diese kann ich sprechen – sollte auf den Sammelband ‚The Wire – Urban Decay and American Television‘ von Tiffany Porter und C. Marshall zurückgreifen: http://goo.gl/lLu5V
    Dort kommen Sozial- und Geisteswissenschaftler zusammen, um aus einer Multiperspektive die in ‚The Wire‘ ja nur angerissenen Themen näher einzuordnen und zu besprechen.

    Wie David Simon, der Drehbuchautor, ausführte, sollte es in ‚The Wire‘ in erster Linie darum gehen, den Verfall öffentlicher Institutionen zu dokumentieren und in der Folge Handlungszusammenhänge auszumalen, die bei einer nur individuell bzw. subjektorientierten Betrachtung außen vor bleiben müssen. Insoweit kann man die Stadt Baltimore als tragischen Hintergrund für Ergebnisse betrachten, die durchaus verallgemeinerbar sind auf weite Teile der US-amerikanischen Gesellschaft. Wahrscheinlich lässt sich wirklich mit Foucault, aber vor allem Bourdieu die Handlungsmöglichkeiten des Individuums in das jeweilige soziale Feld einpassen. Hingegen scheint mir Luhmann nur in der letzten Staffel wirklich präsent zu sein: wenn es um die Selbstreferenz des Pressewesen geht, das auf der Jagd nach der nächsten Story auch noch so kleine Versucher der Linderung der Drogenproblematik mit dem Hintern wieder einreißt. Hier scheint einfach der Neuigkeitswert einer Nachricht in Geld umgerechnet zu werden und deshalb die Halblegalisierung von Drogenkonsum als ausschlachtbare Story (das passiert schon in Staffel 3, die Funktionslogik der Redaktion hingegen wird erst in der Schlussstaffel ausgeleuchtet). Währenddessen Luhmann aber eine normative Bewertung dieser Vorgänge weder vornehmen wollte, noch mit seiner Medientheorie leisten konnte, verweist Simon spätestens mit der zweiten Staffel auf sozialökononomische Modernisierungsprozesse und einen grundlegenden Strukturwandel der Ostküstenwirtschaft. Während der persönlich Zwist zweier Einwanderergenerationen nur als Oberfläche dient, wird im Hintergrund des Hafengeländes eigentlich in einer ungeahnten Präsenz die Etablierung eines neuen ökonomischen Produktionsmodells sehr gut vorgestellt: die Hafenarbeiter warten von Tag zu Tag auf leer zu räumende Frachter, parallel dazu wird bereits deren Entlassung diskutiert, da eine Automatisierung der Lagerhaltung auch in den USA einhalten soll. Menschliche Arbeit wird demnach auch im Hafen freigesetzt und in etlichen Schlüsselszenen wird die alte Stahlfabrik ins Auge gefasst, in der bis Ende der 1970er Jahre etliche der Männer beschäftigt waren. Es ist diese Form der Arbeit, die identitätsstiftende wirkt – in einer weitere Szene sagt ein Protagonist, der bereits sein Einkommen durch Schmuggel bzw. Hehlerei aufbessern muss zu einem sogenannt „Wigger“ (ein weißer Junge im Drogengeschäft mit Gangsterattitude), das er als stolzer Pole niemals ohne Arbeitsvertrag arbeiten würde. Dieser Arbeitsvertrag und die Sicherheit des Normalarbeitsverhältnis ist in der postfordistischen Ökonomie auch Baltimores nicht mehr zu haben, stattdessen hält auch hier die sog. „Globalisierung“ Einzug. Nicht nur im Finanzwesen, das Downtown bestimmt, sondern auch im Organisierten Verbrechen, das durch transnationale Kooperationen bestimmt wird. Es geht also hierbei vor allem um eine strukturtheoretische Analyse ökonomischer Prozesse, in deren Folge die Fluidität und das schwindende Vertrauen Anomieprozesse begleiten: zynische Politiker, zynische Hafenarbeiter, zynische Investoren, zynische Polizei. David Simon verzichtet nicht, klar das finanzkapitalistische Produktionsmodell zu kritisieren: dieses Gesellschaftsmodell habe keine Zukunft (http://goo.gl/DMhN6). Und auch die Aktionen der Polizei, die ein Zeitlang noch als Sympathieträger aufgebaut wird, sorgt nach und nach für eine Ernüchterung der Kontingenz des jeweiligen Tuns, denn die einzelne Jagd nach bestimmten Drogenbossen verkommt mehr und mehr auch zu einem Selbstzweck. Es gibt im Grunde nur eine Person, die anfangs noch versucht, einen Brückenschlag zu machen und sich für die Entwicklungsgeschichte eines Jungen aus einem Ghetto zu interessieren. Spätestens mit dessem Tod jedoch, lässt auch dieses Interesse nach und schlägt in Selbstgenügsamkeit um, die obendrein noch durch einerseits menschliche, andererseits hilflose Rettungsversuche des eigenen Egos (Alkoholismus, Sexismus) überbrückt werden sollen. Die Protagonisten in ‚The Wire‘ sind insofern „echt“ als dass die jene Figuren abbilden, die man leider im Alltag oft genug zu Gesicht bekommt. Ein Ideologiekritiker findet sich im gesammten Setting nicht, was die Serie auch absurd erscheinen ließe. Sie ist ein Sittenporträt einer anomischen und auseinanderdriftenden Gesellschaft, in der Mord und Totschlag Gewöhnungssache sind und in jedem sozialen Feld eigens beurteilt und bearbeitet werden (ob nun für den Gerichtsmediziner oder den Statistiker bei der Polizei, bei der Mutter eines ghettoisierten Kindes oder als Wahlkampfthema für einen Smart Guy-Politiker).

    Hat man die gesammte Serie durch, fühlt man sich nicht wirklich besser oder entspannter. Es ist keine wirkliche Unterhaltungsserie, auch wenn sie etliche Merkmale einer solchen aufweist oder auch aufweisen muss, um nicht allein als Dokumentation durchzugehen. ‚The Wire‘ dürfte vor allem für ein amerikanisches Publikum „schockierend“ sein – was umgekehrt wohl der Grund dafür ist, die Serie über alles zu heben und mit eigenartigen Superlativen auszustatten. Tut man dies, reduziert man ihren Inhalt auf besseres Infotainment, das schnell verblasst, nachdem der DVD-Silberling aus dem Player genommen wurde. ‚The Wire‘ könnte eher ein Arbeitsauftrag sein und doch bleibt es Unterhaltung, weil die Realität nicht in Film abgebildet werden kann – allenfalls als Näherungsversuch, ernstgemeinter Versuch, den zynischen und ideologischen Bilderlandschaft des Fernsehens etwas entgegenzusetzen. Und doch: ein jeder wird genau das sehen, was er darin sehen will. So sieht der Soziologe ein solche Serie immer anders, als ein unbefangener Zuschauer. Simon selbst wollte ein größeres Publikum auf das institutionelle Versagen aufmerksam machen. Das ist keine ästhetische Größe und sollte auch m.E. nicht darauf reduziert werden.

  3. Nachtrag: Das wirklich Interessante an ‚The Wire‘ ist, dass die Serie nicht wie andere, ihren Blickwinkel auf einen Gegenstand fokussiert, sondern überschreitend nachdenkt und ein Multifacettenbild der Stadt Baltimore offenbart. Indem unterschiedliche Handlungslogiken transparent werden, diese mit dem Zeitablauf synchronisiert werden, zeigt sich, wie Lebenswelten je kontextgebunden entstehen und verfallen und also absolute Aussagen über „die Gesellschaft“ völlig fehlgreifen müssen – auch wenn der grundlegende Strukturkonflikt zwischen Kapital und Arbeit bestimmend bleibt und die Phänotypen unterschiedlich erscheinen lässt. Dieses Sehgefühl lässt sich m.E. ganz gut mit der Dokumenation „24h Berlin“ (2009) vergleichen, in der unterschiedliche Einwohner der Stadt zu parallelen Zeiten, aber an verschiedensten Orten begleitet werden: auch dort wird erkennbar, wie unterschiedlich sozialer Sinn produziert wird und wie doch die einzelnen Handlungsstränge um Abstraktionen (Symbole, Zeichen, Warenflüsse) konvergieren.

  4. Vielen Dank für diese Erweiterung und Vertiefung!

    Um einen mir besonders wichtig erscheinenden Punkt herauszugreifen: Die ökonomischen Ursachen für regressive Entwicklungen in Baltimore spielen in der Serie – und der ihr zugrunde liegenden Realität – sicherlich eine zentrale Rolle. Das kommt in meinem Beitrag etwas kurz, wenn ich nur andeutungsweise von der postindustriellen, schrumpfenden Stadt spreche. Den zentralen Einfluss der Ökonomie will ich keineswegs in Frage stellen. Ich glaube allerdings nicht, dass einerseits „der grundlegende Strukturkonflikt zwischen Kapital und Arbeit bestimmend bleibt“, wie Du im Nachtrag schreibst, während andererseits die Eigenlogiken der dargestellten Felder oder sozialen Systeme trotzdem eine zentrale Rolle spielen, wie Du es an verschiedenen Stellen anführst. Die Eigenlogiken werden in der Serie kaum als Luhmannsche Autopoiesis beschrieben, umgekehrt lassen sie sich aber auch nicht letztlich auf ökonomische Faktoren zurückführen. Doch müssten sie das nicht, wenn jener Grundkonflikt bestimmend ist? Stattdessen ist der Eigensinn unterschiedlicher Handlungssphären selbst Thema der Serie, die Orientierung am Machterhalt in der Politik wäre ein Beispiel.

    Wie auch immer man diese Prozesse gesellschaftstheoretisch begreift. Als weitere Herausforderung bleibt, wie man derartige Beschreibungen und Erklärungen mit einer normativen Dimension verbinden kann. Erst das würde es dann erlauben, begründete Kriterien für ihre Bewertung und mögliche praktische Veränderung zu entwickeln. Insgesamt sicher ein ziemlich großer Arbeitsauftrag.

  5. “ Insgesamt sicher ein ziemlich großer Arbeitsauftrag.“

    Durchaus. An einigen amerikanischen Universitäten hat das dazu geführt, das eigene Kurse angeboten werden, fachübergreifend und in der die Serie dann Betrachtungsgegenstand für ein oder mehrere Semester sein kann. Insoweit hat diese Medienform den Charme, das sie es erlaubt, sich kreativ mit tatsächlichen sozialen Problemen, deren Verschleierung oder Verzerrung durch Medien und Alltagserfahrung usw. transparent zu machen. Da kommen dann Literatur- und Medienwissenschaftler mit Stadtgeographen, Soziologen und Politikwissenschaftlern zusammen.

    Hinsichtlich des grundlegenden Strukturkonflikts wollte ich auf eine phasenverschobene Betrachtung hinaus. Wenn wir z.B. Bourdieus Habitus-Feld-Theorie voraussetzen, dann wird sozialer Sinn in jedem Feld neu ausgehandelt, wobei historisch, politische und sozialstrukturelle Faktoren, die Spielregeln weitgehend bestimmen und die jeweiligen Akteure darauf reagieren und ihren Habitus adaptieren und anpassen. Das ließe sich dann tatsächlich je Staffel auf das zentrale Feld der Auseinandersetzung übertragen: Ghetto/Drogenhandel, Hafen/Schwerindustrie, Rathaus/Kommunalpolitik, Schule/Bildungssystem und Redaktion/Medienwesen. In der letzten Staffel wird dann aber eine aus meiner Sicht sehr materialistische Antwort gegeben: alle Felder konvergieren um identische Abstraktionen, wobei das Geld eine zentrale Rolle einnimmt. Während Luhmann von konvertiblem Medium spricht, kann man hier durchaus eine sozioökonomische Gelddefinition anwenden: Profit/Gewinn und Kapitalakkumulation als treibendes Element. Und tatsächlich geraten alle Protagonisten in Geldprobleme oder kommen mit Geldflüssen in Kontakt.

    Pierre Bourdieu hätte einen Ökonomismus nicht gelten lassen, das wäre auch zu krude, sondern vielmehr sollte dargelegt werden, dass der jeweilige Habitus an die Ausprägung von Kapitalsorten gebunden ist. Neben ökonomischen Faktoren gehören dazu auch soziale Regeln und symbolische Derivate, kulturelle Eigenlogiken wirken transhistorisch. Mit Bourdieu lässt sich an dieser Stelle eine Scharnierfunktion zwischen Marx und Weber einnehmen: wir haben eine durch den Antagonismus von „Kapital“ und „Arbeit“ geprägte Arbeits- und Erwerbsgesellschaft, in der stratifizierte Klassen/Schichten ihr Leben zu gestalten suchen, wobei für die Mehrzahl der Menschen in ‚The Wire‘ eben dieses Leben determiniert ist (nicht als Automatismus, aber als strukturelle Komponente oder Wenn-Dann-Beziehung).

    Ich greife an dieser Stelle aber auch nur auf Simons eigene Lesart zurück. Gerade im Zuge der Finanzkrise sind aber insbesondere in den USA machttheoretische Fragen wieder aufgeworfen worden (vgl. die Arbeiten von David Harvey, die aus sozialgeographischer Sicht Fragen der städtischen Eigentums-, Mitbestimmungs- und Teilhabeformen aufwirft). Für Deutschland ist eine Serie wie ‚The Wire‘ schwer vergleichbar, weil es weder diese bisweilen „akzeptierte“ Form der Ghettoisierung gibt (man spricht hier ja eher von „sozialen Brennpunkte“ und Orten mit geringer „sozialer Mobilität“) und sozialpolitische bzw. wohlfahrtsstaatliche Surrogate bereitstehen. Das Bild, das Simon ausmalt zeigt ja eine sehr düstere, haltlose Situation in der der Vertrauensverlust bereits soweit forangeschritten ist, dass die öffentlichen Institutionen unterminiert sind und ein Anomiezustand nur mit Zynismus, aber auch einer Absenkung der Gewaltschwelle einherzugehen scheint. – Selbst wenn Baltimore den Statistiken des FBI zufolge tatsächlich die höchste Mordrate aufweist (im Vergleich: Berlin hat m.W. nur ein Viertel an Mordzahlen je Kalenderjahr). Wenn du dich z.B. an die erste Staffel erinnerst, wird dir vielleicht noch die sinnlose Polizeibrutalität als leere „Gegengewalt“ bewusst sein: die Leute, die zunächst noch als Sympathieträger fungierten (Greggs, Sydnor, Carver) hauen mit Gummiknüppeln auf die Minderjährigen ein, sodass es einem unbefangenen Zuschauer eigentlich nur den Atem verschlagen kann. Und es gibt etliche dieser Szenen, die diese Entfremdung, Leere und Sinnlosigkeit gut wiedergeben. Das heißt, selbst dort, wo Bezugsgruppen versuchen, ihre Sozialmoral und Gruppenidentität gegen Dritte abzusichern (einzelne Polizeieinheiten gegen den Major oder den Captain, gegen andere Ermittlungseinheiten usw., gegen die Ghettokids), wird die aus dem Alltag auch uns vertraute Frontstellung sehr fassbar und daher m.E. auch un-fassbar.

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