Baustelle Bundesstaat? Steven Schällers Replik auf den Kommentar von Alexandra Kemmerer

In der vergangenen Woche hat sich Alexandra Kemmerer die Mühe gemacht, für Verfassungsblog und Theorieblog meinen Aufsatz in der ZPTH zu lesen und kritisch zu besprechen. Ich habe von ihrer Besprechung neue Dinge über meinen Text gelernt und Denkanstöße bekommen, die ich unten nur zum Teil aufgreifen kann, die mir aber auch insgesamt helfen, meine eigene Position besser zu verstehen. Insofern bin ich für die sich hier bietende Gelegenheit sehr dankbar – Alexandra Kemmerer und dem Theorieblog. Der Kern von Kemmerers Kritik lautet, dass mein methodischer und konzeptioneller Zugriff auf das Lissabon-Urteil zu einer Deutung führt, deren Realisierung für die zukünftige Gestalt Europas kaum wünschbar wäre. So habe ich einerseits die Möglichkeit, meine Methode zu verteidigen und/oder andererseits meine Ergebnisse zu rechtfertigen. Ich möchte beides versuchen.

Der Status meiner politischen Theorie
Ich verstehe Kemmerers Kritik als Problem einer disziplinären Abgrenzung: Anscheinend betreibe ich eine Form der politischen Theorie, die sie „normativ nicht unproblematisch – und methodisch einigermaßen absurd“ findet. So führe ich als Politikwissenschaftler den „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ (Schlink) ins Extrem und bestätige im Nachhinein die Kritik Bernhard Schlinks an der Staatsrechtslehre. Ich glaube, es handelt sich hierbei zunächst um eine unpassende Erwartung Kemmerers an ‚die‘ Politische Theorie und ihre Aufgaben und zweitens um eine von mir nicht hinreichend deutlich gemachte Zielstellung des Textes.
Zunächst zu letzterem: Für meinen Geschmack viel zu häufig bieten die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Anlass dazu, unsichere Diagnosen in die Feuilletons der Republik zu tragen. Im Fall des Lissabon-Urteils bedeutete das von Seiten der konservativen ‚Freunde‘ des Gerichts ein Lob dafür, dass es endlich mal wieder einen Warnschuss vor den Bug der dynamischen ‚Integrationisten‘ in Brüssel und Berlin gesetzt hat. Andererseits sah sich das Gericht der Kritik ausgesetzt, die Integration Europas jetzt endgültig mausetot geschossen zu haben sowie die Lehren aus der deutschen Geschichte – mehr Europa auf Kosten des Nationalstaates – nicht verstehen zu wollen. Ich habe mich dagegen gefragt, ob Offenheit und Gestaltbarkeit der Zukunft die Apodiktik dieser Diagnosen nicht in Frage stellen. Haben wir nicht doch eine Wahl, indem wir den Text der Entscheidung ernst nehmen und – vielleicht auch gegen die Intention eines Teils des Senats – eine Deutung formulieren, die zwar gegen den Strich gebürstet, aber mindestens ebenso plausibel erscheint, wie die harsche Kritik an dem Urteil? Was also ist eine zunächst unsichere, aber gleichwohl plausible Leseart des Lissabon-Urteils? Für mich ist es die Annahme, mit der Entscheidung bahne das Gericht den Weg zu einem europäischen Bundesstaat, der, wenn er denn gegangen werden soll, bitteschön grundgesetzkonform über Art. 146 GG einzuschlagen ist.

Damit komme ich zu dem, was Alexandra Kemmerer – nicht gerade im besten Sinne – bemerkenswert findet: Ich entwickle eine Verfassungstheorie des Föderalismus, die keinerlei kritisches Reflexionspotential entfalte und lediglich die Positionen des Gerichts reproduziere. Das ist zutreffend. Es ist nicht meine Absicht, eine normative Föderalismustheorie zu entwickeln, mit der Karlsruhe darüber belehrt werden soll, was es eigentlich meinen müsste, wenn es den Bundesstaat und sein föderales Ordnungsprinzips auslegt. So weit stehe ich erst einmal etwas verloren da – eine politische Theorie ohne den Anspruch, dem tristen Sein ein kritisches Sollen entgegenzusetzen. Im Verständnis Vieler handelt es sich also um gar keine politische Theorie.

Ich verstehe die Politische Theorie jedoch als eine vielfältige Subdisziplin der Politikwissenschaft. Neben normativer politischer Theorie hat eine empirisch fundierte Theoriebildung ihren Platz. Ich betreibe genau diese Form der Theoriebildung. Mein Untersuchungsgegenstand ist das Bundesverfassungsgericht und seine Rechtsprechung. Das Gericht steht auf jener Schnittstelle im demokratischen Verfassungsstaat, auf der politische Fragen in einer rechtlichen Semantik verhandelt werden. Ich analysiere diese rechtlichen Semantiken – sowohl die des Gerichts, als auch die der Staatsrechtlehre. Damit erklärt sich auch die Schärfe meines taxonomischen Zugriffs. Reformuliere ich aus dieser Perspektive Alexandra Kemmerers These, meine politische Theorie sei problematisch und methodisch absurd, dann ist sie es, weil sie gerade eine empirische Basis vorweisen kann und diese in überprüfbaren Arbeitsschritten auszuweisen versucht. Damit gelange ich zur kritischen Diskussion meiner Ergebnisse, die Alexandra Kemmerer mit großer Sachkunde und Geduld unternimmt.

Subjekt der Einheitsstiftung in einem Bundesstaat
Das Problem meiner Deutung des Lissabon-Urteils bestehe vor allem darin, dass ich den Weg zum europäischen Bundesstaat allein über den „revolutionären Befreiungsschlag eines constitutional moment“ konzipiere und gleichzeitig mit dem Bundesvolk ein Legitimationssubjekt beschreibe, das – im Gegensatz zu Habermas und von Bogdandy – eine individualistische Fundierung vermissen lässt und stattdessen viel zu sehr alten nationalstaatlichen Kategorien verhaftet bleibt. Beide Punkte sind für mich Aspekte des selben Problems: Wer oder was ist das Subjekt der Einheitsstiftung in einem Bundesstaat?

Bei dieser Frage sind zwei Perspektiven zu unterscheiden, die ich selbst im Text viel zu selten hinreichend deutlich getrennt habe: Einerseits die Perspektive des Bundesverfassungsgerichts und andererseits meine eigene Perspektive, die sich durchaus von den von mir rekonstruierten Thesen des Gerichts über die Gestaltwerdung eines europäischen Bundesstaates unterscheiden. Sofern die vorgeschlagene Lesart des Urteils überzeugen kann, so ist der Weg über Art. 146 GG jener Weg, den das Bundesverfassungsgericht als grundgesetzkonform annimmt. Dieser staatsrechtliche Versuch, die Geltung der Verfassung über den Moment ihrer Außerkraftsetzung hinaus auszudehnen, muss als der Versuch gelesen werden, auch noch dem revolutionären Moment einen rechtliche Rahmen zu verleihen und ihn weniger schauerlich erscheinen zu lassen. Die Furcht der „juristischen Aristokratie“ vor dem unkontrollierbaren Demos spricht aus diesem Artikel. Für das Bundesverfassungsgericht ist dieser Weg gleichzeitig der Modus der Integration zum einem europäischen Bundesstaat. Nimmt man Artikel 146 GG zur Blaupause für den Weg zur europäischen Bundesverfassung, die das Grundgesetz ablöst, dann ist es nach wie vor das bereits unter dem Grundgesetz konstituierte deutsche Volk, das sich mit der Stimmabgabe erst in Zukunft als Teilvolk eines europäischen Bundesvolkes begreifen möchte. Ob eine solche Abstimmung noch etwas gemein hat mit dem prickelnden Schauer einer Revolution, und ob dies tatsächlich eine „ausweglose Verfassungslage“ ist, erscheint aus einer politikwissenschaftlicher Perspektive offener, als vielleicht aus einer juristischen Perspektive.

Jedenfalls steht genau dieser Weg in einem Widerspruch zu der These von Max Steinbeis, die sich auch Alexandra Kemmerer zu eigen macht, wonach die Konstitutionalisierung eines europäischen Bundesstaates nicht mehr im Modus nationaler, sondern nur noch europäischer Willensbildung gedacht werden kann. Das deutsche Volk stimme so über die gemeinsam geschaffene europäische (Bundes-)Verfassung nicht mehr als deutsches Volk ab, sondern bereits als Teil des europäischen Bundesvolkes. Ich selbst bin in dieser Frage unentschieden und habe lediglich eine Frage, die ich hier zur Diskussion stellen möchte: Staatsrechtlich ist die 146er-These des Bundesverfassungsgerichts die normlogische Variante. Hintergrund dieser Logik ist aber die Annahme, dass erst mit einer Verfassung ein neues (europäisches) Bundesvolk konstitutiert werden kann und eine europäische Verfassung diesen Konstitutionsakt dokumentiert und in seiner Legitimität ausweist. Die These von Alexandra Kemmerer scheint dagegen genau anders herum gelagert zu sein. Nicht die Verfassung schafft ein Bundesvolk, sondern das bereits bestehende Bundesvolk beglaubigt verfassungsnotariell seine eigene Existenz. Dies setzt jedoch die von Habermas im Kontext seiner Äußerungen zu Europa immer mit gemeinte Existenz eines gemeinsamen Diskursraumes voraus, in dem sich die Teilvölker bereits kommunikativ integriert haben. Dies für den besseren Weg nach Europa zu halten, zweifle ich nicht an. Ob es aber der wahrscheinlichere Weg ist, der zudem den constitutional moment samt seinen unterstellten Gefahren zu verhindern weiß, bezweifle ich. Ich unterstelle in diesem Punkt dem Gericht einen größeren Pragmatismus als einer normativen Theorie.

Abstrakt bildet sich jedenfalls für mich in diesem Problem der Spannungsbogen ab, ob eine Verfassung ein bereits existierendes Volk voraussetzt (Kemmerer), oder ob ein einheitliches Bundesvolk durch eine Verfassung geschaffen werden kann (BVerfG). In der Antwort auf diese Frage liegt auch die Antwort, ob der von mir aus dem Lissabon-Urteil rekonstruierte Weg zu einem europäischen Bundesstaat ein problematischer sein würde.

7 Kommentare zu “Baustelle Bundesstaat? Steven Schällers Replik auf den Kommentar von Alexandra Kemmerer

  1. Es ist eine interessante Debatte, die sich hier zwischen Alexandra Kemmerer und Steven Schäller entspannt hat; und auch wenn die darin angerissenen Fragen zu viele sind, als dass mach von der Seitenlinie auf jede einzelne eingehen könnte, möchte ich doch kurz zwei Punkte einwerfen, die sich vor allem auf den Gegensatz beziehen, der in den letzten beiden Absätzen des Beitrags hier entwickelt wurde: Konstituierung eines europäischen Volkes durch eine Verfassung oder Verabschiedung einer Verfassung durch ein europäisches Bundesvolk?

    Erstens: Steven Schäller schreibt, die „146er-These des Bundesverfassungsgerichts“ sei staatsrechtlich die „normlogische Variante“: „Nimmt man Artikel 146 GG zur Blaupause für den Weg zur europäischen Bundesverfassung, die das Grundgesetz ablöst, dann ist es nach wie vor das bereits unter dem Grundgesetz konstituierte deutsche Volk, das sich mit der Stimmabgabe erst in Zukunft als Teilvolk eines europäischen Bundesvolkes begreifen möchte.“ Dies scheint mir jedoch mit einem logischen Problem der zeitlichen Abfolge verbunden zu sein: Wenn das europäische Volk erst durch eine europäische Verfassung konstituiert wird, brauchen wir dann nicht erst einmal eine europäische Verfassung, bevor sich das deutsche Volk via Art. 146 GG als Teil des europäischen Volkes rekonstituieren kann? Und wie soll diese neue Verfassung entstehen, wenn nicht in Form einer europäischen Verfassunggebung? Dass die Deutschen allein beschließen, künftig Teil eines europäischen Volkes zu sein, wäre reichlich irrelevant, solange sie sich nicht mit dem Rest der Europäer darüber einig sind, wie der europäische Bundesstaat beschaffen sein soll. Damit aber sind wir wieder bei der These von Max Steinbeis, die auch von Alexandra Kemmerer (und mir) geteilt wird: Wenn es einen europäischen Bundesstaat geben soll, dann brauchen wir als erstes einen europäischen Willensbildungsprozess, der zu einer europäischen Verfassung führt.

    Zweitens: Dieses logische Problem der zeitlichen Abfolge lässt sich vom staatsrechtlichen Standpunkt recht einfach durch das Konzept eines Verfassungsvertrags lösen. Die verschiedenen Nationalstaaten würden einen Vertrag aushandeln, in dem sie ihre Vereinigung in einen europäischen Bundesstaat (und damit die Vereinigung ihrer Völker zu einem europäischen Volk) beschließen. Die Ratifikation dieses Verfassungsvertrags würde dann jeweils noch durch eine Abstimmung der nationalen Völker erfolgen – in Deutschland via Art. 146 GG -, die dann ab seinem Inkrafttreten nur noch Teil des gesamteuropäischen Volkes wären. Die Aushandlung des Verfassungsvertrags wäre damit zugleich gesamteuropäischer und nationaler Willensbildungsprozess.

    Betrachtet man allerdings die diskurstheoretischen Implikationen eines solchen Vorgangs, so verkompliziert sich das Bild wieder. Tatsächlich erfordert ein solcher Vorgang, dass sich die Bürger während der Aushandlungsphase der europäischen Verfassung sowohl als Bürger ihres Nationalstaats als auch als Europäer verstehen: Denn sie müssen zugleich an einer europäischen Willensbildung über die Beschaffenheit der europäischen Verfassung und an einer nationalen Willensbildung über die Rekonstituierung der eigenen nationalen Verfassung teilnehmen.

    Wenn man jedoch davon ausgeht, dass Bürger zu einem solchen diskursiven Spagat in der Lage sind (und warum sollten sie es nicht sein?), dann zerfällt das gesamte Problem: denn dann wird der Bürger eben nicht erst durch das Inkrafttreten einer europäischen Verfassung zum Europäer, sondern er ist es schon in dem Moment, in dem er beginnt, mit anderen Europäern über eine gemeinsame Verfassung zu verhandeln. Dieser Zeitpunkt aber ist längst überschritten – der gemeinsame europäische Diskursraum existiert schon längst in den Strukturen der heutigen EU (die ja jeder vernünftigen Annahme zufolge auch die Basis des europäischen Bundesstaats sein würde). Insofern macht es wenig Sinn, erst einen rekonstituierenden Akt des „deutschen Volkes“ zu verlangen, damit ein „europäisches Volk“ ins Leben treten kann. Bundesverfassungsgericht hin oder her, gibt es schon jetzt ein europäisches Volk in Form der Bevölkerung der Europäischen Union; und jeder Bürger kann sich zugleich als Europäer, als Deutscher und als Sachse verstehen. Aber ist das nicht ohnehin schon immer ein Kernmerkmal des Föderalismus gewesen?

    Die interessantere Frage scheint mir deshalb eher, welche dieser verschiedenen Identitätsebenen in einer bestimmten politischen Debatte aktiviert wird, und das war auch das Thema meines Artikels hier (den auch Alexandra Kemmerer in ihrem Beitrag verlinkt hat): Gestaltet man den Prozess einer europäischen Verfassunggebung so, dass das Verfahren eher eine gemeinsame gesamteuropäische Auseinandersetzung über die Funktionsweise der EU fördert? Oder konzentriert man sich allein auf die Rekonstituierung der nationalen Verfassung, in Deutschland etwa in Form eines nationalen 146er-Referendums? Letztlich ist das eine politische Frage, aber von ihr könnte der weitere Erfolg des europäischen Integrationsprojekts abhängen.

  2. Lieber Manuel,

    ich hatte ja selbst schon angedeutet, dass ich in dieser Frage unentschieden bin. Es ist nicht so, dass Du mich schon überzeugt hast, indem Du die zeitliche Abfolge eines möglichen Verfassungsgebungsprozesses nachzeichnest. Die Frage, die sich mir stellt, zielt auf die mögliche Funktion einer Verfassung. Wenn man sich die These des „Gast“-Kommentars im Verfassungsblog ansieht, dann wird vielleicht deutlicher, was ich meine. Hier wird essentialistisch angenommen, dass die konstituierende Gewalt immer schon der Verfassung vorausgeht. („Die Faktizität eines Volkes als pouvoir constituant ist zwingend apriorisch im Verhältnis zu einer normativen Verfassung, die ihm gegenüber Geltung beanspruchen soll.“) Wie aber kommt die ‚Faktizität des Volkes‘ zustande (vielleicht erst durch eine Verfassung, die festlegt, welches Volk durch sie konstituiert wird und welche Mitglieder dieses Volkes welches Staatsbürgerrechte und -pflichten haben?)? In welchem, der Verfassung vorausgehenden, Modus wird bestimmt, wer Teil des Volkes ist und wer nicht? Ich schiebe die Schmittianischen Implikationen mal vollkommen beiseite und konzentriere mich nur auf die Perspektive des Gerichts. Indem dieses nämlich darauf beharrt, dass der Weg zu einer europäischen Verfassung nur über Art. 146 GG möglich ist, stellt es gleichzeitig die hohen normativen Hürden des Grundgesetzes selbst in den Weg einer Verfassungsgebung. Für die Gestaltung eines Verfassungsgebungsprozesses in einem europäischen Rahmen stellt sich daher die Frage, ob die Macht der konstituierenden Gewalt stark genug ist, den Art. 146 GG zu ignorieren. Wenn sie es nicht ist, dann unterliegt der gesamte Verfassungsgebungsprozess dem Zweifel der Grundgesetzwidrigkeit. Für das Bundesverfassungsgericht spielt es dann keine Rolle, ob sich die Deutschen bereits kommunikativ in ein europäisches Bundesvolkes verflüchtigt haben.

    Zu Deiner Lösung des Verfassungsvertrages möchte ich nur auf eine semantische Besonderheit hinweisen, die im Wort ‚Verfassungsvertrag‘ steckt – vielleicht trage ich damit Eulen nach Athen… Christoph Schönberg hat mal darauf hingewiesen, dass Bundesverfassungen sich fundamental von einheitsstaatlichen Verfassungen unterscheiden. Sie sind Verfassung und Vertrag in einem und dokumentieren die besondere Natur der doppelten Legitimationsbasis eines Bundesstaates. Von hier aus gelange ich immer wieder zu der Frage nach dem Subjekt der Einheitsstiftung im Bundesstaat – einheitliches Bundesvolk oder bereits in Staaten konstituierte Teilvölker. Meine These wäre, dass dies genau die offene Frage im Bundesstaat bleibt. Es ist beides zugleich und wird im Konfliktfall nur fallweise durch den Interpreten der Bundesverfassung entschieden. Was das für einen Verfassungsgebungsprozess im europäischen Rahmen bedeutet, ist für mich nach wie vor ein Problem, über das ich nachdenke, ohne eine Lösung gefunden zu haben. Vielleicht hilft mir die Diskussion hier weiter.

  3. Lieber Steven,

    ich denke, genau in der „Frage nach dem Subjekt der Einheitsstiftung im Bundesstaat – einheitliches Bundesvolk oder bereits in Staaten konstituierte Teilvölker“ liegt der Hund begraben. Es ist ja bezeichnend, dass viele der Diskussionen, die wir heute über die Konstitutionalisierung der Europäischen Union führen, bereits ihre Vorläufer im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts hatten, wo ebenfalls über das Verhältnis zwischen „Föderalismus“ und „Souveränität“ diskutiert wurde: Wenn Staaten souverän sind und die Souveränität unteilbar ist, wie können dann in einem föderalen System sowohl die Länder als auch der Bund (bzw. damals das Reich) staatlich sein? Die Lösung dieses Problems in der deutschen Rechtswissenschaft bestand bekanntlich darin, Souveränität und Staatlichkeit voneinander zu trennen: Die Länder sind zwar Staaten, aber nicht souverän. Damit aber war der Weg geöffnet zum Konzept des „unitarischen Bundesstaats“, der sich primär eben doch als Staat der Deutschen versteht, nicht als Verein der verschiedenen deutschen Völker. Auch für das Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts ist das wohl nach wie vor die prägende Sichtweise.

    Letztlich aber ist diese Lösung aus einer föderalismustheoretischen Perspektive alles andere als zwingend – schon allein, weil (angesichts zunehmender gesellschaftlicher Verflechtungen) das Konzept der Souveränität seit dem 19. Jahrhundert sehr viel von seiner Strahlkraft verloren hat. Solange man an einer einheitlichen Souveränität festhalten will, braucht man auch ein eindeutiges Legitimationssubjekt, das im „unitarischen Bundesstaat“ eben das Bundesvolk ist. Akzeptiert man aber das Prinzip eines heterarchischen Mehrebenensystems, dann kann man die Frage offen lassen und von einer doppelten Legitimationsbasis ausgehen.

    Das bedeutet dann aber auch, dass Konflikte über das Legitimationssubjekt nicht notwendigerweise „fallweise durch den Interpreten der Bundesverfassung entschieden“ werden. Indem man das Letztentscheidungsrecht über die Interpretation der Verfassung auf Bundesebene ansiedelt, folgt man schon wieder dem Prinzip des „unitarischen Bundesstaats“. Aus Sicht eines constitutional pluralism könnte man stattdessen weitergehen und ein gleichberechtigtes Interpretationsrecht sowohl auf der höheren als auch auf der niedrigeren Ebene annehmen. Und genau das ist ja das Charakteristikum der europäischen Rechtsordnung, wo die Frage nach dem Letztentscheidungsrecht zwischen EuGH und nationalen Verfassungsgerichten niemals endgültig geklärt wurde.

    Nun mag es sein, dass das BVerfG diese Sichtweise nicht teilt: Aus seiner eigenen Perspektive hat derzeit es selbst (und nicht der EuGH) das ultimatie Letztentscheidungsrecht. Insofern mag es auch Sinn ergeben, wenn das BVerfG erst einmal eine europäische Staatsgründung sehen will, bevor es die Existenz eines europäischen Volkes akzeptiert: Wenn auch auf europäischer Ebene ein unitarischer Bundesstaat gegründet würde, wäre das BVerfG bereit, auf sein eigenes Letztentscheidungsrecht zu verzichten (und vielleicht die Rolle einzunehmen, die die deutschen Landesverfassungsgerichte derzeit haben); bis dahin aber pocht es darauf, im Zweifel selbst ganz oben in der Entscheidungskette zu stehen.

    Aber das ergibt eben nur aus Sicht des BVerfG Sinn, nicht aus derjenigen eines verfassungspluralistischen Föderalismustheoretikers, der sich nicht auf die Perspektive eines einzelnen Gerichts einlassen muss.

  4. Ich bin eine zeitlang ebenfalls der Annahme nachgegangen, dass Konzept der Souveränität sei überholt. Inzwischen setze ich dahinter ein großes Fragezeichen. Warum? Weil legitimes Letztentscheidungsrecht für mich ein Charakteristikum des Politikbegriffes ist. Wenn dieses Letztentscheidungsrecht in den sogenannten Mehrebenensystemen zu diffundieren scheint, dann ist das kein Problem der Aktualität des Souveränitätskonzeptes, sondern eine Problem des Versprechens der Demokratie. Diese Demokratie befindet sich als konstitutionalisierte Demokratie in einem Spannungsverhältnis von Politik und Recht, von demokratischem Gesetzgeber und Verfassungsgericht.
    Meine These lautet hier, dass die Souveränität als legitimes Letztentscheidungsrecht in die Verfassung abgewandert ist (ich jongliere hier ein wenig mit Abromeit und Vorländer). Nicht der Gesetzgeber ist im demokratischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes der Souverän. Es ist auch nicht das Volk als konstituierende Gewalt – setzt doch das Grundgesetz selbst das Volk als Staatsvolk erst ein (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Im demokratischen Verfassungsstaat entscheidet das höherrangige Recht des Grundgesetzes darüber, wer und was Staatsvolk ist; welche Institutionen errichtet werden und welche Kompetenzen sie legitimerweise ausüben dürfen. Wandert somit die Souveränität in die Verfassung, ist es keine allzu gewagte These, dass der Interpret der Verfassung in einem Maß über das Letztentscheidungsrecht verfügt, dass man ihn den Souverän im demokratischen Verfassungsstaat nennen darf. Ich glaube darüber hinaus, dass es keine zufällige Beobachtung ist, dass die beiden stärksten Verfassungsgerichte in der westlichen Welt (USA und Bundesrepublik) zugleich Verfassungsgerichte in Bundesstaaten sind. Gerade weil die Souveränitätsfrage im Bundesstaat zwischen einem einheitlichen Bundesvolk und den konstituierten Teilvölkern offen gelassen wird, muss sie im Konflikt fallweise geschlossen werden – vom Inhaber des im Legitimitätsglauben ruhenden Letztentscheidungsrechts.
    Deswegen begreife ich die gegenwärtigen Phänomene, die Du als constitutional pluralism beschreibst, und die von verschiedensten Rechtswissenschaftlern von Kumm bis Fischer-Lescano/Teubner beschrieben werden, als Prozesse zur Rekonfigurierung des legitimen Letztentscheidungsrechts. Darauf läuft ja nicht zuletzt auch die Kritik am Demokratiedefizit der gegenwärtigen europäischen Politik hinaus. Nur weil diese Frage aber bislang noch nicht eindeutig entschieden ist, glaube ich nicht, dass die beobachtbaren Phänomene nicht doch auf eine Klärung dieser Frage hinauslaufen. Nimmt man sämtliche Versuche seit dem Europäischen Verfassungsvertrag zusammen, so ist nicht der Versuch der Akteure charakteristisch, in einer pluralistischen Mehrebenensemantik die Rechtsordnungen ‚nur‘ föderal ineinanderzuschieben, sondern diese Frage der Letztentscheidung selbst zu klären. Auch und zumal in einer föderalen Bundeskonstruktion. Für einen „Föderalismustheoretiker“ geht damit der Verfassungspluralismus nicht verloren. Das Verhältnis der Verfassungen als föderal ineinandergeschobene Rechtsordnungen wird nur neu konfiguriert.

  5. *Pfiff durch die Zähne* Ich denke, ich verstehe Deine Sichtweise jetzt besser!

    Nur ein ganz kurzer Gedanke dazu, dass „Souveränität als legitimes Letztentscheidungsrecht in die Verfassung abgewandert“ sei: Mir scheint da ein Zirkelproblem vorzuliegen. Die Verfassung kann ja selbst keine Entscheidungen treffen, sondern ist zunächst einmal nur ein interpretierbarer Text. Der eigentliche Souverän ist mithin der legitime Interpret der Verfassung. Aber wer dieses Recht zur legitimen Interpretation hat, müsste ja wieder die Verfassung entscheiden… und so weiter in infinitum. (Und das ist nicht einmal allein ein mehrebenensystem-spezifisches Problem. In einem System der Gewaltenteilung konkurrieren die verschiedenen Verfassungsorgane immer schon mit ihren je eigenen Verfassungsinterpretationen, und wie z.B. Daniel Halberstam für die USA gezeigt hat, muss dabei keineswegs immer das Verfassungsgericht das letzte Wort haben.)

    Geht man diesen Gedanken weiter, könnte man wohl am ehesten den Verfassungsdiskurs („Diskurs“ im Michel-Foucault’schen Sinn) als souverän ansehen: jene von allen relevanten Akteuren geteilten Vorstellungen darüber, wie der Verfassungstext zu interpretieren ist. Was aber, wenn sich die relevanten Akteure nicht einig sind – wenn der Präsident einen anderen Diskurs pflegt als der Supreme Court oder das Bundesverfassungsgericht einen anderen als der EuGH? Natürlich kann man dann einfach selbst politisch Position beziehen und erklären, man sehe diesen oder jenen Akteur als den einzig legitimen Interpreten der Verfassung an. Aber eine zwingende (demokratie)theoretische Lösung für das Problem gibt es nicht; und das ist, denke ich, der Punkt, an dem das Souveränitätskonzept uns nicht mehr weiterhilft und der Verfassungspluralismus (also die Vorstellung dauerhaft konfligierender Letztentscheidungsansprüche) zum attraktiveren Erklärungsrahmen wird.

  6. Lieber Manuel,

    das Problem des infiniten Regresses ist für mich eine Frage der verfassungsgerichtlichen Praxis. Eine Reihe von Verfassungen sehen einen Interpreten vor, der sich aber nicht in dem Maße der Verfassung bemächtigt, dass er zu einem maßgeblichen Akteur im politischen Prozess werden kann (ich denke da als Beispiel an den Conseil constitutionnel in Frankreich). Im Fall des Bundesverfassungsgerichts und des U.S. Supreme Court gibt es sowohl punktuell beobachtbare Momente als auch langfristige Prozesse einer Aneignung des Verfassungstextes. So sehen natürlich die Verfassungen ihren Interpreten vor. Dieser Interpret muss aber auch ‚zugreifen‘ können/wollen. Vieles hängt hier von der Ausgestaltung und der Praxis der Verfassungsgerichte ab. Ich denke hier bspw. an den Statusstreit, den das Bundesverfassungsgerichts gegenüber der Bundesregierung und dem Bundestag geführt hat oder an die Entscheidung Marbury vs. Madison, mit der der U.S. Supreme Court eine Prüfungskompetenz gegenüber dem politischen Prozess behauptet hat. Praktisch mündet dies in eine Position der faktischen Unangreifbarkeit der Judikate, die ja gerade erst die demokratietheoretische Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit sichtbar werden lässt. Die Arbeiten von Christoph Möllers und auch Alexandra Kemmerer zielen ja häufig auf genau dieses Legitimationsproblem der Verfassungsgerichtsbarkeit.

    Die Souveränität in den Verfassungsdiskurs zu verschieben, halte ich für einen nachdenkenswerten Vorschlag. Ich gelange hier jedoch sofort zu der Frage nach den Akteuren des Diskurses. Es scheint mir eine Machtfrage zu sein, wer diesen Diskurs mit seinen Argumenten ‚beherrschen‘ kann, wer also seine Position im Diskurs deutungsmächtig durchsetzen kann. Im Fall der gegenwärtig zu beobachtenden institutionellen Konkurrenz im europäischen Rahmen stecken die nationalen Verfassungsgerichte sehr sorgfältig ihre claims ab (bspw. auch das spanische Verfassungsgericht). Im Lissabon-Urteil verbergen sich meiner Ansicht nach zwei widerstreitende Thesen das Gerichts: erstens die Behauptung der nationalen Souveränität mit allen Konsequenzen für den Aufbau Europas gemäß den Maßgaben des Maastrichter ‚Staatenverbundes‘ und zweitens eben das Angebot, dass man den ganzen Integrationsprozess nun in einem anderen Modus angehen sollte, demzufolge die interinstitutionellen Kooperationsverhältnisse wieder mehr Eindeutigkeit in der Frage des Letztentscheidungsrechts ermöglichen. Die Bedingung dafür wäre, dass sich Europa bundesstaatlich organisiert, die Verfassungsgerichte wechselseitigen Respekt für die föderal ineinandergeschobenen Verfassungsräume erkennen lassen und damit dem für das Bundesverfassungsgericht vertrauten Muster des bundesrepublikanischen Modells folgen. Natürlich nähme das Bundesverfassungsgericht selbst und von vornherein eine viel selbstbewusstere Stellung im Verhältnis zum Europäischen Gerichtshof ein, als das die Landesverfassungsgerichte im Verhältnis zum deutungsmächtigen Bundesverfassungsgericht gekonnt haben.

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