Empirie und Theorie? Zur Frage nach konstruktivistischen Ansätzen in der Politischen Theorie

Die Möglichkeiten konstruktivistischer Ansätze innerhalb der Politischen Theorie stehen im Mittelpunkt der neuen DVPW-Themengruppe „Konstruktivistische Theorien der Politik“. Sie hat sich vom 9. bis 10. Februar 2012 zum ersten Mal in Duisburg getroffen.

In Ihrer Hinführung fokussierte Renate Martinsen (Duisburg-Essen) die unterschiedlichen konstruktivistischen Theoriefacetten auf den grundlegenden Zusammenhang, dass die Welt nicht außerhalb einer theoriegeleiteten Wahrnehmung und daher unabhängig vom Beobachter zu begreifen sei. Dies gab den für die weitere Diskussion aber auch die gesamte Tagung zentralen Schwerpunkt vor, nämlich wie die Begriffe von Theorie und Empirie voneinander zu unterscheiden sind, wo beide doch als miteinander verschränkt gedacht werden müssen.

Wilhelm Hofmann (München) griff diese Ambivalenz in seinem Vortrag „Politische Ideologien: Konstruktion in praktischer Absicht“ auf. Forschung zu politischen Ideologien könne sich nie nur auf ihren Gegenstand beziehen, sondern sie müsse immer auch eine Kritik der eigenen Perspektive beinhalten und gehe somit über eine ablehnende Haltung gegenüber Ideologie als ‚falsche Vorstellung‘ hinaus. Die Referentialität von Objekt und Perspektive wurde von Thorsten Schlee (Duisburg-Essen) unter dem Titel “Ist die Wahrheit dem Menschen zumutbar?” theoretisch ausformuliert. Im Vergleich zwischen Foucault und Luhmann nähere man sich den Möglichkeitsbedingungen von Wahrheit aus unterschiedlichen Richtungen an. Die jeweiligen Konzepte von Diskurs und System beziehen sich beide auf die Art und Weise wie sich Wahrheit in Bezug auf das Subjekt konstruiert, um so einen politischen Raum zu eröffnen. Dies ist hervorzuheben, da gerade das Medium der Wissenschaft durch diskursive bzw. kommunikative Konstruktionen geprägt ist, die den Verhandlungsraum der Relation von Beobachter und Gegenstand bedingen. Unter dem Titel „Konstruktivistische und konstruktive Politische Theorie“ verdeutlichte Jörn Knobloch (Potsdam), dass sich Politische Theorie bei der Ausgestaltung eines politischen Raumes positionieren müsse. Damit wäre die Politische Theorie auch normativ daran beteiligt, wie sich ihr Gegenstand formieren sollte. Zusätzlich zur theoretischen und normativen Dimension nahm Tatjana Jackel (Duisburg-Essen/St. Andrews) die sprachliche Vermittlung in den Blick. Sie interessierte sich daher für „Die Funktion des Konstruktivismus in der paradoxalen Welt der Wissenschaft“ und damit für unterschiedliche Strukturierung der Sprachspiele entlang wissenschaftsdisziplinärer Grenzen. So entstehe die Relativität einer als wissenschaftlich markierten Erzählung und die Frage werde aufgeworfen, inwiefern sich Zeichen und Bezeichnetes über sprachliche, kulturelle oder disziplinäre Räume hinweg verfehlen?

Um die Konfrontation der unterschiedlichen Grenzbedingungen von Empirie und Theorie auf unterschiedlichen Ebenen konzeptionell zu erfassen, bot die Tagung drei spezifische Perspektiven in Anlehnung an Luhmann, Foucault und Derrida. Tobias Peter (Freiburg/Wittenberg) konzentrierte sich auf die „Grenzen der Politik und Entgrenzung des Politischen bei Luhmann“. Die luhmannsche Perspektive berücksichtige die Frage nach Grenzbildungsprozessen durch gesellschaftliche Kommunikationen. Diese dynamische Ordnungsrepräsentation eröffne den Zugang, um sich dem politischen Moment in der Abgrenzung von Systemen zu nähern, ohne dabei auf eine Letztbegründung angewiesen zu sein. Liegt der Fokus auf der Gouvernementalität so betonte Hans-Martin Schönherr-Mann (München) die prekäre Stellung der Konstitutionsprozesse sozialwissenschaftlicher Gegenstände selbst. „Foucaults Gouvernementalität in konstruktivistischer Perspektive“ zu lesen, bedeute Regierungsstrukturen als diskursive Relationen zu problematisieren, also jede machtunabhängige Gegenüberstellung von Subjekt- und Objektpositionen zu hinterfragen. Der Vortrag „Auf den Spuren Jacques Derridas: Politische Theorie als textuale Konstruktion“ von Benjamin Wilhelm (Erfurt) – full disclosure: dem Autor dieses Tagungsberichts – hob den beständigen Prozess der Kontextualisierung hervor. Die derridasche Dekonstruktion der Freundschaft zeige einen Weg auf, um die Politik der Bedeutungszuschreibung zu problematisieren. Das Politische könne so in der Verschiebung eines Verweisungssystems textualer Konstruktionen lokalisiert werden.

An der Praxis verdeutlicht wurde Theorie dann einerseits anhand einer kritischen Betrachtung der Repräsentationen innerhalb der Forschungsliteratur zum globalen Terrorismus durch Floris Biskamp (Gießen). „Der konstruierte Terrorist“ unterliege der Objektivierung durch die Beobachter, anstatt dass ein offenes Reflexionsangebot unterbreitet werde, um damit nicht auf eine Kritik falschen Bewusstseins oder den eigenen normativen Vorstellungen zu verfallen. Andererseits beschrieb Wolfgang König (Landau) „Wirklichkeitsprüfungen in deliberativen Governance Arenen“. Hier standen Verfahren zur konkreten Konstruktion von Deliberationsprozessen und deren Erfolgsbedingungen in der Kommunalpolitik im Vordergrund: Wie können legitime Politiken aus einem Querschnitt der Bevölkerung deliberativ herausgearbeitet werden?

Die abschließende Podiumsdiskussion widmete sich Fragen nach der Weiterentwicklung konstruktivistischer Theorien der Politik: Wie können sie Verwendung finden und was ist ihr gemeinsamer Gehalt?

Synoptisch zusammengefasst rekurrierte Isabel Kusche (Osnabrück) auf die Möglichkeit zur Reflexion der eigenen Wissenschaft und wie sie sich ihren Kausalitätsbeziehungen stellt; Benjamin Herborth (Frankfurt/Groningen) forderte das Kultivieren einer Sensibilität sozialwissenschaftlichen Forschens zur Denaturalisierung epistemologischer Paradigmen; Martin Nonhoff (Bremen) hob hervor, dass sich konstruktivisitsche Forschung sowohl mit der eigenen Normativität als auch ihrer Plausibilität auseinandersetzen müsse. Auch deshalb, so Holger Zapf (Göttingen), bestehe die Notwendigkeit zur Klarheit der Methode, nicht zu vergessen sei aber auch die Verantwortung des Rezipienten wissenschaftlicher Analysen.

Insgesamt war die Tagung von einer umfangreichen aber fokussierten Diskussion geprägt. Ein Fazit – gerade auch mit Blick auf die Ergebnisse der Podiumsdiskussion – könnte daher lauten: Konstruktivistische Theorien haben abgegrenzte Möglichkeiten und Spielräume, aber die Konkretisierung der empirisch-theoretischen Verschränkung ist nicht einem Paradigma unterworfen.

Vertreten wird die mit der Tagung konstituierte Themengruppe durch die neugewählten Sprecherinnen Renate Martinsen und Tatjana Jackel.

 

Benjamin Wilhelm promoviert über den Begriff des ‚Internationalen‘ an der Universität Erfurt. Seine thematischen Schwerpunkte liegen darüber hinaus im Bereich der Internationalen Politischen Ökonomie und neueren Theorieansätzen in den Internationalen Beziehungen

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