theorieblog.de | Honneth-Lesekreis (4): Axel Honneth – Kommunitarist?

12. Dezember 2011, Busen

Teil B, Kapitel II (Moralische Freiheit) (S. 173-218)

Parallel zur Diskussion der rechtlichen Freiheit knöpft sich Axel Honneth in Kapitel II von Teil B die moralische Freiheit vor, wobei er im gleichen Dreischritt zunächst die historische Entwicklung und den Gehalt dieser Freiheit rekonstruiert, sodann ihre Grenzen aufzeigt, und schließlich diejenige Pathologien diskutiert, die aus einem ‚Vergessen‘ dieser Grenzen resultieren. Im Zentrum des Kapitels steht dabei eine hochinteressante Diskussion des Prinzips der Unparteilichkeit, die Honneth als zentrale Vorbedingung und Teil der Praxis der moralischen Freiheit identifiziert, und deren Fehlinterpretation – speziell in ihrem Verhältnis zu bestehenden sozialen Praktiken und Institutionen – er als Ursache der Pathologien der moralischen Freiheit ausmachen wird. Aber der Reihe nach…

Bemerkenswert ist gleich zu Beginn, dass Honneth noch vor der eigentlichen Rekonstruktion der Idee der moralischen Freiheit eindeutig deren Abgrenzung von der rechtlichen Freiheit vornimmt, insofern sie nämlich gerade nicht mit „staatlich kontrollierbarer Verbindlichkeit ausgestattet“ ist, sondern die „schwach institutionalisierte Form eines kulturellen Ordnungsmusters angenommen hat“ (174; vgl. auch das Ende des oberen Absatzes auf 191). Rechtliche und moralische Freiheit sind bei Honneth zwei getrennte und unabhängige Sphären. Nun könnte man sich fragen, inwiefern nicht auch die moralische Freiheit genutzt werden kann, um moralisch fragwürdige Elemente des je gegebenen Rechtssystems zu kritisieren. Über eine solche ‚Querverbindung‘ zwischen den Sphären werden wir aber auch im Rest des Kapitels nichts erfahren – wir werden sehen müssen, inwiefern das dann erst zur sozialen Freiheit gehört.

Zunächst rekonstruiert Honneth also den Siegeszug der moralischen Freiheit, dessen Auftakt er in Kants Konzeption von individueller Freiheit als moralischer Autonomie verortet. Diese wird in einer bewundernswert prägnanten Darstellung in erster Linie als das kritische Potential gekennzeichnet, solche Handlungsanforderungen zurückzuweisen, die sich bei kritischer Überprüfung nicht einer universellen Zustimmung versichern können. In dieser kritischen Funktion findet die moralische Autonomie Honneth zufolge dann rasch und umfassend gesellschaftlichen Rückhalt:  „Die Vorstellung, dass wir über die moralische Freiheit verfügen, gesellschaftliche Zumutungen und Rollenerwartungen im Nachweis verallgemeinerungsfähiger Gründe zurückzuweisen, wird zu einem kulturellen Orientierungsmuster, das auf den Wegen literarischer Zeugnisse und politischer Kommunikationen in die Poren der sozialen Lebenswelt eindringt“ (180/181). Die so verstandene moralische Freiheit (und mit ihr der moderne Begriff der Würde) ist also Honneth zufolge als Institution aus den modernen Gesellschaften nicht mehr wegzudenken (vgl. auch 181 unten). Für letztere bleibt Honneth leider auch hier weitgehend Belege schuldig – mit Ausnahme des schönen Hinweises auf veränderte Erziehungspraktiken (182, nebst der Aussicht auf eine vertiefte Diskussion in III.1).

Die Grenzen dieser kritisch verstandenen moralischen Freiheit werden allerdings deutlich, so Honneth, wenn man ihre Vorbedingungen als Praxis wechselseitiger Anerkennung näher betrachtet. Die jeweils andere kann nur dann als Trägerin moralischer Freiheit anerkannt werden, d.h. ihr kann nur dann „moralische Achtung“ (194) entgegengebracht werden, wenn zu erwarten ist, dass sie für ihr Handeln gegebenenfalls verallgemeinerbare Gründe angeben kann, was wiederum voraussetzt, dass sie ihre Handlungsentscheidungen überhaupt an verallgemeinerbaren Prinzipien auszurichten kann – was schließlich voraussetzt, dass sie sich in die Perspektive der relevanten Anderen hineinversetzen kann. Die Voraussetzung für die Anerkennung als moralisches Subjekt ist also, mit anderen Worten, die Zuschreibung der Fähigkeit, zu einem unparteilichen Urteil bzgl. des eigenen Handelns gelangen zu können. Gerade dabei handelt es sich Honneth zufolge aber um eine „Illusion“ (196).

Hoch anrechnen muss man Honneth, dass er in der folgenden Kritik der Unparteilichkeitsidee äußerst differenziert vorgeht. So verteidigt er (gegen einen kruden Kontextualismus) durchaus die Möglichkeit, sich in der Beurteilung des eigenen Handelns von partikularen Bindungen zu lösen. Wogegen er sich aber wendet, ist die darüber hinausgehende Idee, „vom sozialen Bedeutungsgehalt der Beziehungen absehen zu können, in denen wir uns immer schon befinden“(200/201). Von konkreten Bindungen kann man sich distanzieren, nicht aber von den „institutionellen Arrangements, in die sie jeweils eingelassen sind“ (198). Was er damit meint, verdeutlicht Honneth am (fiktiven?) Beispiel eines Hochschullehrers, der vom Plagiatsdelikt eines befreundeten Kollegen erfährt. Was ist für ihn die moralisch angemessene Reaktion? Den spezifischen Gehalt der Freundschaft mit dem Kollegen kann er Honneth zufolge im Sinne von Unparteilichkeit zwar ausblenden, nicht aber die – sozusagen ‚formale‘ – Tatsache, dass er mit dem Kollegen befreundet ist, und Freundschaft und Kollegialität bereits selbst implizit Handlungsnormen beinhalten, zu denen er sich zwangsläufig verhalten muss. Worauf Honneth also offenbar hinaus will, ist, dass es (nicht-rechtliche) gesellschaftliche Institutionen gibt – Honneth nennt neben Freundschaft spezifisch Eltern-Kind-Beziehungen und (interessanterweise) „die Normen einer Verfassung“ (204) –, die wir als moralisch autonom Handelnde als bereits gegeben vorfinden und die sich nicht ohne weiteres durch moralische Überlegungen ‚übertrumpfen‘ lassen.

Das wirft verschiedene Fragen auf. Wenn „unser Verhältnis zueinander immer schon durch bestimmte Handlungsnormen geregelt ist, die und nicht einfach zur Disposition stehen“ (207), woher rührt diese beachtliche normative Kraft? Und gilt das für alle Institutionen, die wir innerhalb der Gesellschaft als gegeben vorfinden? Inwiefern sind sie dem moralischen Diskurs tatsächlich vollständig unverfügbar? Wenn Honneth davon spricht, dass diesem „elementare Formen der wechselseitigen Anerkennung voraus[liegen], die für die ihn umgebende Gesellschaft so konstitutiv sind, dass sie von dessen Teilnehmern nicht weiter hinterfragt werden können“ (204), scheint damit zumindest teilweise eine Antwort auf diese Fragen gegeben zu sein: in besonderem Maße für die Gesellschaft konstitutive Institutionen können nicht von der moralischen Autonomie hinterfragt werden (womit aber noch nicht geklärt ist, was genau „konstitutiv“ bedeutet). Dagegen räumt Honneth allerdings ein, dass „wir in der Einstellung der moralischen Freiheit insofern zur Transformation der gegebenen Gesellschaft beitragen [können], als uns deren Allgemeinheitsbezug eine öffentliche Infragestellung der jeweiligen Auslegung lebensweltlicher Normen erlaubt“ (205). Der Unterschied liegt hier vermutlich darin, dass es sich bei einer solchen Transformation letztlich um eine Wahrnehmung der kollektiven Autonomie handelt – was unter Umständen wiederum auf die soziale Freiheit verweisen könnte.

Beachtenswert ist hier aber in jedem Fall, welch umfangreiche normative Kraft den bestehenden (und vermutlich: historisch gewachsenen – oder gar: traditionalen) gesellschaftlichen Institutionen zukommt. Das wird auch mit Blick auf die von Honneth analysierten Pathologien besonders deutlich. Denn was den „Persönlichkeitstyp des unverbundenen Moralisten“ (207) ja gerade zur Pathologie macht, ist, dass er die normative Kraft der bestehenden Institutionen, die „moralische Faktizität seiner sozialen Lebenswelt“ (208/209), ausblendet und glaubt, sich allein an universalistischen Moralprinzipien orientieren zu können. Ist es in diesem Zusammenhang Zufall, dass Honneths „unverbundener Moralist“ (und die Rede von der pathologischen „Fiktion eines unverbundenen Subjekts“ (210)) klingt wie eine Mischung aus MacIntyres Charakteren der modernen Gesellschaft (dem Ästhet, dem Therapeuten und dem Manager) und Sandels ungebundenem Selbst? Oder zeigt uns Honneth hier sein kommunitaristisches Gesicht?

[Gesamtübersicht zum Lesekreis]

Andreas Busen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg und dort außerdem in das Forschungsprojekt „Europa und Moderne“ eingebunden. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt derzeit auf seiner Diss zum Ort der Solidarität in der zeitgenössischen politischen Theorie. Weitere Schwerpunkte sind republikanische Theorien des Politischen sowie methodologische Fragen in der politischen Theorie und der Erforschung politischen Denkens.


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