Marx‘ Aktualitäten – Ein Konferenzbericht

Die gegenwärtig behauptete Aktualität des Denkens Karl Marx‘ wird zumeist mit der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise begründet. Wie Rahel Jaeggi jedoch in ihrer Rede zur Eröffnung der vom 20. bis 22. Mai an der Humboldt-Universität zu Berlin veranstalteten „Re-thinking Marx“–Konferenz betonte, gibt es noch zahlreiche andere Gründe, um sich wieder intensiver mit dem Werk des radikalen Philosophen und Kritikers der politischen Ökonomie auseinander zu setzen. Sie fügte hinzu, dass angesichts der Vielseitigkeit des Marxschen Œuvres der Ausdruck „Aktualitäten“ treffender sei. Die Hauptorganisatorin der internationalen Tagung bemerkte zudem,  dass es manchmal schwierig sei, anatomisch ausgedrückt, die genaue Position des Kopfes oder der Füße im Marxschen Werk auszumachen. Damit spielte Jaeggi auf Marx‘ berühmte Bemerkung an, worin er Hegels Dialektik als auf dem Kopf stehend bezeichnet hatte – eine Formulierung, die im Verlauf der Konferenz immer wieder herangezogen wurde.

Den Eröffnungsvortrag hielt Wendy Brown. Sie widersprach der These, dass nicht nur im Westen, sondern auch in anderen Teilen der Welt die Zukunft dem Säkularismus gehören werde. Im Gegensatz dazu habe Marx weder an einen quasi-automatischen Ersatz der Religion durch Vernunft und Wissenschaft, noch an eine Zerstörung der Religiosität durch den Kapitalismus geglaubt. Andrew Chitty erklärte, dass Marx den im Liberalismus postulierten Gegensatz zwischen Freiheit und Gemeinschaft ablehnte. Der radikale Denker habe in seinem Werk versucht, eine bestimmte Art von Gesellschaft zu skizzieren, in der dieser Gegensatz bedeutungslos wäre. Dies sei ihm letztlich, trotz ausreichender Mittel, nicht gelungen. Christoph Menke arbeitete in seinem Beitrag eine politische und eine soziale Rechtslogik sowie die entsprechenden Kritikformen heraus und stellte das Spannungsverhältnis zwischen den beiden dar. „To put it brutally”, so Saskia Sassen zu Beginn ihres Vortages, „Marx does not understand the political”. Doch statt spannender Ausführungen zu solch einer kontroversen These mussten die ZuhörerInnen einen recht konfusen Vortrag über sich ergehen lassen, in dem die bekannte Soziologin wenig Substantielles zu Marx zu sagen hatte, dafür umso mehr zu ihrer Forschung im Allgemeinen und ihren Publikationen im Besondern.

Der zweite Konferenztag begann mit Vorträgen zur Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie. Es wurde gefragt, was aus Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie geworden wäre, hätte er die den gesellschaftlichen Entwicklungen innewohnende normative Konflikthaftigkeit in seine Kapitalismusanalyse integriert. Des Weiteren wurde die Zurückweisung ethischer Urteile als legitime Basis der Sozialkritik durch diejenigen Denkströmungen kritisiert, die sich mit moralischen Fragen der Gerechtigkeit beschäftigen – z.B. die gerechte Verteilung von Ressourcen.

Am Nachmittag hatte man die Qual der Wahl zwischen vier thematisch unterschiedlichen Panels. In einem dieser Panels widersprach Tim Henning der üblichen Annahme der Linken, die Neoklassik sei essentiell affirmativ gegenüber dem Kapitalismus, und versuchte zu zeigen, dass und wie sich aus deren Prämissen eine antikapitalistische Kritik überzeugend ableiten lässt. Marco Iorio hinterfragte, ausgehend von der elften Feuerbach-These, Marx‘ Gebrauch von Begriffen und führte diesen – aus seiner Sicht  problematischen – Umgang auf Marx‘ Inkonsequenz bei seinem Bruch mit Hegel zurück. Harmut Rosa präsentierte zur gleichen Zeit einen Vortrag, der ob seines Witzes viel Anklang fand. Insbesondere die folgende Episode trug zu begeisterten Kommentaren bei. Bei der Diskussion, die dem Vortrag folgte, ergriff ein Mann das Wort, der sich als „Unternehmer, Steuerzahler und Individuum der Zivilgesellschaft“ vorstellte und sichtlich erregt nach der Botschaft des ganzen akademischen Geredes fragte. Sie liege doch klar auf der Hand, erwiderte Rosa. Er wisse aus seiner Forschung heraus, mit welchen persönlichen Problemen, gesundheitlicher oder ehelicher Natur, die Mehrzahl der ökonomischen Führungskräfte zu kämpfen hätte. Gerade sie seien die wahren Verlierer des Systems. Und der anfänglich entrüstete Unternehmer kann nicht umhin, lächelnd Rosa beizupflichten.

In der anschließenden Plenarsitzung mit dem Oberthema „Kritik der Politik“ sinnierte Étienne Balibar über den Marxschen Begriff des Politischen qua Klassenkampf. Alex Demirović kritisierte hingegen die Gegenwartsphilosophie für ihre affirmative Begeisterung für das Politische als Konstituierendes, während sie gleichzeitig die Problematik der Politik als Konstituiertes entweder negativ besetzt oder schlicht ignoriert. Rosemary Hennessy thematisierte die menschlichen affektiven Vermögen, die an dem dynamischen Prozess der Formung politischer Identitäten beteiligt und für sozialen Wandel unerlässlich sind. Damit sprach sie ein Thema an, das in anderen Beiträgen leider nicht in den Blick genommen wurde.

Der letzte Konferenztag begann mit Beiträgen, die sich alle in verschiedener Weise mit normativen Aspekten befassten. Rainer Forst würdigte Marx‘ Ablehnung eines „halbierten Begriffs von Gerechtigkeit“, während Georg Lohmann Marx‘ zum Teil paradoxes Verhältnis zu moralischen und rechtlichen Normen kritisch unter die Lupe nahm. Andrea Maihofer stellte einige Überlegungen zur Normativität vom materialistisch-dekonstruktivistischen Standpunkt vor, gefolgt von Frederick Neuhouser, der sich mit dem Gebrauch der Idee der Freiheit durch den jungen Marx auseinandersetzte.

Am Nachmittag ging Andreas Arndt zunächst der berühmt-berüchtigten Frage nach Marx‘ eigener Variante der Dialektik nach. Marx, so Arndt, habe zwar am junghegelianischen Projekt des Auszuges aus der Philosophie festgehalten, die dialektische Methode jedoch keineswegs aufgegeben, sondern sie für die wissenschaftliche Analyse fruchtbar gemacht. Urs Lindner durchschritt rednerisch das Marxsche Werk und beleuchtete dabei Marx‘ verschiedene Kritikformen. Tilman Reitz präsentierte Marx als den ersten richtigen Philosophiekritiker vor Friedrich Nietzsche und Hans-Christoph Schmidt am Busch problematisierte den Einfluss Fouriers auf Marx‘ Werk sowie den Marxismus.

In der letzten Plenarsitzung der Konferenz wurde, im Rahmen eines Vortrags von Terry Pinkard, zunächst die Frage erörtert, ob Marx besser Hegelianer geblieben wäre. Die anschließend aufgeworfene Frage lautete: Welche Aspekte des Marxschen Denkens sind für die zeitgenössische Philosophie in systematischer Hinsicht relevant? Zuletzt wurde gefragt, wie die zeitgenössische politische Philosophie dahingehend transformiert werden kann, dass sie sich der sozio-politischen Erfahrung mit ihren Methoden annimmt und auf diese Weise zur Entwicklung einer genuin anderen Politik beiträgt.

Die Aktualität Marx‘ wurde durch die hohe Beteiligung von Menschen unterschiedlichen Alters und das große Interesse seitens der Medien (hier die Berichte aus taz und NZZ) an der Tagung unterstrichen. Die in den Konferenzbeiträgen enthaltene thematische und theoretische Fülle hat nicht nur die Ergiebigkeit des Marxschen Denkens widergespiegelt, sondern hat zudem auf eindrucksvolle Weise das verdeutlicht, was Jaeggi zu Beginn der Tagung mit den von ihr angesprochenen „Aktualitäten“ Marxens  im Blick hatte. Es bleibt nach dieser vielseitig konzipierten Konferenz nur festzuhalten, dass viele der von Marx aufgeworfenen Fragen sowie die von ihm herausgearbeiteten Probleme nach wie vor aktuell sind und es wahrscheinlich auch in Zukunft bleiben werden.

Andreas Lotz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Sonderforschungsbereich 644 „Transformationen der Antike“ im Teilprojekt A11 „Imperiale Deutungsmuster“.

3 Kommentare zu “Marx‘ Aktualitäten – Ein Konferenzbericht

  1. also ich wr nur am 2. tag auf dem panel mit axel honneth, moishe postone und russel keat.

    keat, sozialist und erklärtermaßen keinerlei ahnung von marxens begriffen geschweige denn von dessen analysen war sowas von raus und bestätigte diese am ende in der diskussion noch selber mit dem statement „ich bin kein freund großer theorien, denn der streit darum bringt die leut nicht zusammen“. ganz schwacher vortrag.

    vom honneth erwartunggemäß sozialdemokratischer reformerquatsch, der sich darüber beschwert, daß marx aus dem kapital kein geschichtsbuch gemacht hat, was dieser sehr bewußt und richtiger weise gelassen hat.

    der einzige, der merklich ahnung von marx hatte was an der korrekten verwendung von dessen begriffen leicht zu erkennen war, war postone, der sich auch als einziger bemüht hat an marx etwas herauszuarbeiten und eben re-thinking zu betreiben, während die anderen beiden marx nicht mal einmal gedacht haben und sich lieber selbst verhandelten.

    ganz schwache nummer und danach hatte man auch keine lust mehr sich den rest anzutun. postone konnte einem da schon leid tun, auf diesem niveau mitspielen zu müssen.

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