Macht zwei. Bericht zur Augsburger DVPW-Tagung „Politische Macht im gesellschaftlichen Kontext“

Der zweite Teil des kleinen Machtschwerpunktes der DVPW-Sektion für Politische Theorie und Ideengeschichte lockte vom 16.-18. März nach Augsburg. Anders als bei der Erfurter Herbsttagung zu den „Variationen der Macht“ bot das knapper gehaltene Programm die Möglichkeit, auf Parallelpanels zu verzichten und sich lästige Rochaden zu ersparen. Zur Eröffnung wurde der titelgebende „gesellschaftliche Kontext“ mit Verweis auf den Veranstaltungsort, der einmal mehr dem wohlbekannten Charme handelsüblicher Seminarräume entzogen und in die Innenstadt verlegt wurde, von Konferenzorganisator Marcus Llanque (dessen souverän-elegante Leitung insgesamt zu gefallen wusste) historisch eingeholt: Getagt wurde im Zeughaus (dessen historischer Teil 1607 errichtet wurde), welches als städtische Rüstkammer für militärische Macht stehe. Ein Blick aus dem Fenster genügte, um den Fuggerschen Stadtpalast (ab 1512 erbaut) zu erkennen, welcher das Thema der ökonomischen Macht ins Gedächtnis rufe. In nur wenigen hundert Metern konnte die St.-Anna-Kirche erreicht werden (von wo aus Martin Luther 1518 nach verweigertem Widerruf seiner 95 Thesen geflohen war), die auf den Kampf um Deutungsmacht verweise.

Doch der Reihe nach zu den Vorträgen, deren Abfolge keiner offenkundigen Meistererzählung folgte: Den Beginn machte Samuel Salzborn (Gießen), der die ambivalente Macht des Mythos verhandelte. Er zeigte diese in den Werken zweier Theoretiker, die er gegenüber stellte: Hobbes, den er als ansatzweise liberalen Denker interpretierte, versus Carl Schmitt, der in dieser Hinsicht natürlich unverdächtig erscheint. Salzborn schlug sich nicht zuletzt nach Belegen für Schmitts antisemitische Haltung auf die Seite des Ersteren. Leider blieb weniger Raum für eine sicherlich viel versprechende allgemeinere Behandlung der Verbindung von Mythos und Macht. Thomas Biebricher (Frankfurt a.M.) stellte einen interessanten Ausschnitt aus seinem Projekt zum Neoliberalismus im Cluster „Normative Ordnungen“ vor. Er konzentrierte sich auf die grundlegenden Denker Von Hayek und Eucken, mit denen systematisch nach wie vor fast alle zeitgenössischen neoliberalen Positionen erfassbar seien. Trotz Unterschieden in der Frage, ob Macht überhaupt problematisiert, wie das Verhältnis von Staat und Wirtschaft gesehen werde und was das jeweils einzuschränkende Übel sei, könne doch beiden im Ergebnis eine erstaunlich autoritäre und antidemokratische Tendenz zugeschrieben werden. Der Vortrag von Manuel Knoll (Istanbul) widmete sich der Macht des Kapitals, genauer gesagt der Stabilität und Steigerungslogik des Kapitalismus. Seiner Verbindung von Marxscher Strukturanalyse und ideengeschichtlich gestützten anthropologischen Überlegungen zur Habgier –als eine Art negativer Tugendethik und motivierender Grundlage – gelang es sichtlich, im Saal einige Unruhe zu erzeugen. Diese offenbar von Vielen als widersprüchlich empfundene Konzeption regte zahlreiche Kommentare an, die zunehmend leidenschaftlich ausfielen. André Brodocz (Erfurt) wollte exemplarisch wissen, ob demnach alle Mitglieder eines kaum der akkumulierenden Habgier zu bezichtigenden Prekariats als Unmenschen zu sehen seien. So weit wollte der Referent dann aber doch nicht gehen.

Den ersten Tag beschloss Georg Zenkert (Heidelberg) mit einem komplexen und weniger polemikfreundlichen Vortrag über das Verhältnis von Macht und Recht. Er fokussierte stärker auf „konstitutive“ Macht und thematisierte unter anderem das Recht als integratives Medium zwischen demokratischer Willensbildung und Institutionenbildung. Im Tagungsaufbau hätte sich zu diesem Themenkomplex eine Umstrukturierung angeboten, wäre es doch lohnenswert gewesen, diesen Vortrag mit den ebenfalls rechtsbezogenen Präsentationen des dritten Tages ins Gespräch zu bringen: Ulrike Meyer (Frankfurt a.M.) beschäftigte sich in ihrem ebenfalls sehr dichten Beitrag auf vergleichbarer Abstraktionsebene ebenso mit dem Verhältnis von Macht und Recht, wobei ihre theoretische tour de force insgesamt auf einen Zweifel an der normativen Dominanz des Rechts über die Politik zielte. Daniel Schulz (Dresden) stellte in seiner Präsentation die These auf, dass jede Verfassungstheorie auch eine Machttheorie sei. Im Weiteren leitend war die Unterscheidung zweier Formen von Verfassungsmacht, konkret von republikanischer Ermöglichung und liberaler Begrenzung, deren spezifische Schnittmenge wiederum im Medium der Deutungsmacht läge.

Am zweiten Tag gelang es den beiden strukturierten Panels der Tagung Akzente zu setzen. Das erste wurde von den ReferentInnen aus ihrer Mitte heraus organisiert. Die überzeugende Dramaturgie dieses Forums wurde jedoch leider durch den kurzfristigen Ausfall ausgerechnet der beiden Rahmenvorträge durcheinander gewirbelt; diese sollten sowohl das Feld bestellen (Matthias Lemke, Duisburg-Essen: „Ideologie und Ideologiekritik“) als auch die gemeinsamen Erträge ernten (Anina Engelhardt, Marburg : „Wissen als Strukturkategorie“). Allein der überaus interesseweckende Paneltitel „Erzählte Orte der Macht“ wurde nicht wirklich eingeholt; zentral war vielmehr das Verhältnis von Macht zu Wissen/ Wahrheit. Thorsten Schlee (Duisburg-Essen) spürte als nunmehr erster Redner der „Korruption des Politischen“ bei Chantal Mouffe nach. In drei Schritten präsentierte er die spannungsreichen Zusammenhänge des Politischen mit einem neutralen Ort, von kontrahegemonialen Strategien mit historisch kontingentem Wissen sowie von Antiessentialismus mit der Unhintergehbarkeit der Anthropologie. Schlees Lehrstuhlkollege Ulf Kemper begab sich auf die Suche nach den korrespondierenden Begriffen der Macht, des Wissens und der Ideologie bei Adorno. Er ließ seine Argumentation in drei Thesen münden, von denen zwei Adornos vermeintliche Schwachstellen (Gefahr des Elitenprojekts, Verhinderung emanzipativer Projekte), und eine sein gegenwärtiges Anregungspotential für eine kritische Theorie der Wissenspolitologie betrafen. Daniel Schmidt (Leipzig) wagte sich, vom Sarrazinbeispiel ausgehend, ins Getümmel aktueller politischer Debatten. In seinem ansprechenden Beitrag identifizierte er insgesamt sechs Kernelemente demografischer „Wahrheitsproduktion“: Krisendiskurse, Zukunftswissen, wissenschaftliche Expertise, grafisches Wissen, Othering und Naturalisierung. Vom Plenum wurde auf das ganze Panel gemünzt der Einwand erhoben, dass insbesondere zwischen Wissen und Wahrheit womöglich nicht hinreichend unterschieden werde.

Besonders viel Lob erfuhr zu Recht das zweite Panel, das sich dem Verhältnis von Macht und Kultur widmete. Es wurde zusammengestellt von Franco Barrionuevo, Andreas Busen, Rieke Schäfer und Veith Selk (alle Hamburg). Den drei am Stück gehaltenen Vorträgen folgte ein ausführlicher Kommentar von David Strecker (Jena), erst im Anschluss wurde die gemeinsame Antwort- und Plenumsrunde eröffnet. Eine sinnvolle und gut ausgefüllte Einrichtung, die auch ein stärkeres In-Beziehung-Setzen der drei Arbeiten leistete. „Ambivalent“, so der Moderator Busen, war allein die kurzfristige Absage von Oliver Marchart (Luzern). Diese münde in eine nun zu übermächtige Rolle des einzig verbliebenen Kommentators, welcher hingegen als „alter“ Habermasianer prompt die eindeutige Stimme der Vernunft für sich reklamierte. Doch zu den Vorträgen: Paul Sörensen (Jena) legte eine innovative wie präzise Interpretation von Arendt vor. Um deren viel behandelter Machtthematisierung Neues abgewinnen zu können, zeigte er einen möglichen „Ort der Kultur“ bei Arendt auf, dem sie selbst noch keine explizite Rolle zugewiesen habe. Problematisch wiederum werde Kultur, wenn sie, analog zur Macht, verknöchere und in ihrer Schließung depolitisiere. Ein besonderer Kniff bestand in der Anwendung auf das unkonventionelle wie ergiebige Beispiel Intersexualität, denn hier ist die Frage der Politisierung Betroffener besonders heikel. Die Diskussion hinterfragte den Mehrwert Arendts etwa über Foucault und Butler hinaus, was mit dem Hinweis auf den besonderen Gewaltbegriff schlüssig beantwortet wurde. Zu überzeugen wusste auch Maike Weißpflug (Aachen), die das politiktheoretisch leider noch zu selten beachtete Thema der Literatur auf den Plan rief. In ihrer Suche nach der politischen Kraft der poetischen Sprache fand sie in Rorty und Rancière ihre theoretischen Gewährsmänner. Idealtypisch unterschied sie zwischen dem liberalen, auf das Private beschränkten Ansatz des Ersteren und dem weitergehenden „romantischen“ Ansatz des Letzteren. Sie ließ eine Präferenz für die größeren Ambitionen Rancières erkennen, für den kreative Neubeschreibung gar als Paradigma von Politik zu sehen sei. Vom Plenum wurde weiterführend angeregt, neben der politischen Dimension der Literatur auch die literarische Dimension des Politischen in den Blick zu nehmen, womit erneut etwa Arendt verstärkt ins Spiel komme. Antonia Schmid (Wuppertal) beschäftigte sich in ihrer dicht bepackten Präsentation mit ikonischer Macht und visueller Repräsentation, wobei sie theoriestrategisch über das Thema Ideologie die Ansätze der cultural studies und Frankfurter Schule verbinden wollte. Analysetechnisch beklagte Sie insbesondere das Fehlen eines politikwissenschaftlichen Bildbegriffs. Ihr Blick über den politikwissenschaftlichen Tellerrand war womöglich nicht für alle unmittelbar anschlussfähig; nicht zuletzt von visuellpolitisch einschlägiger Seite (Willi Hofmann, München) erhielt sie aber Zustimmung.

Als erste Darbietende der zwei abendlichen Einzelvorträge war es an Ina Kerner (Berlin), einen Anschluss an die beiden Panels zu schaffen: Anhand der Begriffe Kooperation, Governance und Gouvernementalität beschäftige sie sich mit Interaktionsformen, bei denen nicht prima facie klar scheine, dass es sich um machtdurchwirkte Prozesse handele. Gleichzeitig hievte sie die Diskussion auf eine subdisziplinär andere Ebene, war ihr Gegenstand doch die transnationale NGO-Förderung. Der interessante Vortrag lief darauf hinaus zu zeigen, dass ein an Foucault orientierter Gouvernementalitätsansatz seinen Alternativen überlegen sei, da er insbesondere machttechnische Ambivalenzen der herrschenden Praxis am besten darstelle. Abschließend demonstrierte Peter Niesen (Darmstadt), wie man, anhand eines zunächst etwas ungewöhnlichen Themas („Macht der Infrastruktur“), ideengeschichtliche Arbeit – hier am Beispiel der britischen Utilitaristen – leisten kann, deren aktuelle Relevanz unmittelbar einleuchtet. Als Schlüsselbegriffe dienten ihm dabei Kolonialisierung und Legitimation; quellentechnisch ging er von Bentham zu Mill.

Martin Saar (Frankfurt a.M.) entfaltete am folgenden Morgen als Einziger ausdrücklich einen allgemeinen Vorschlag eines Machtbegriffs, und hätte sich nicht zuletzt deshalb auch als Eröffnungsredner hervorragend geeignet. Überdies hätte das auch für ihn selbst strukturelle Vorteile gehabt; doch wie tief der augenzwinkernd zum Ausdruck gebrachte Unmut saß, seriöser Weise nicht beim von zahlreichen anderen TeilnehmerInnen am Vorabend ganz traditionell und mit der nötigen Hingabe begangenen St. Patrick’s Day mitgewirkt haben zu können, konnte nicht mehr hinlänglich geklärt werden. Anders als zu befürchten war sollte sich eine rege und produktive Diskussion entspannen, die die Zentralität dieser allgemeinen Begriffsauseinandersetzung unterstrich. Die Grundfrage in Saars Vortrag, der zugleich Einblicke in seine unmittelbar vor dem Abschluss stehende Habilitationsschrift gewährte, lautete: „Was macht Macht?“. Seine programmatische Antwort: sie wirke. Mithin zielte er auf einen prozessualen Machtbegriff, der auf der Konferenz relativ breit anschlussfähig zu sein schien. Saar verankerte selbigen bei Spinoza, den er damit zugleich spannenderweise als Vorläufer von Foucault präsentierte. Im Einzelnen ging er ein auf Elemente eines ontologischen Machtbegriffs (als Stichwörter: Konstitution, Relationalität und Steigerung), auf machttheoretische Konsequenzen (die auf ein Jenseits von Handlungstheorie, methodologischem Individualismus und Herrschaftsfixierung verweisen) sowie auf Demokratie als unhintergehbar vermachtetem Raum. Zu den Einwänden zählte, dass Macht nicht durch potentia ersetzt werden könne oder solle (Ruth Zimmerling, Mainz) oder dass das letztlich ontologisierende Vorgehen Probleme mit sich bringe (Niesen). Saar wiederum plädierte gegen zu viel Angst vor letztlich unvermeidlicher Ontologie, der man sich lieber offensiv stellen solle.

Abschließend ein kurzes Wort der Bilanzierung: Wie realistischerweise für ein solch potentiell repräsentatives Format kaum anders zu erwarten, blieb eine große Synthese oder eine Art Ergebnis aus. Insofern wurde auch das weitläufige Tagungsthema nicht in einem bedeutungsvollen Sinne eingeholt, ein „Variationen II“ hätte wohl ein mindestens ebenso passender Kandidat sein können. Ein heimlicher Schwerpunkt darf aber vielleicht doch vermutet werden: Die Tagung hat viele – aktuellen Hochrechnungen zufolge mindestens die Hälfte – im weitesten Sinne poststrukturalistisch inspirierte Vorträge gesehen und gehört. Das ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, als der Foucaultsche Ausspruch vom Kopf des Königs, der im Politischen Denken noch immer nicht gerollt sei, grundsätzlich eine beachtliche Halbwertszeit aufzuweisen scheint. Die vermeintliche Interessenshäufung könnte nicht zuletzt auch ein Effekt der erfreulich ausgeprägten Beteiligung jüngerer WissenschaftlerInnen sein. Beschließend bleibt noch André Brodocz aufrichtig dafür zu danken, dass diese Tagung nicht einfach so vorüberzog, ohne dass im Rahmen einer sinnvollen kritischen Rückfrage Luke Skywalker zu seinem Recht – und damit hoffentlich auch seiner Macht – verholfen wurde.

Ulf Bohmann provomiert in der Doktorandenschule Laboratorium Aufklärung der FSU Jena und am dortigen Lehrstuhl für allgemeine und theoretische Soziologie bei Hartmut Rosa. Seine Dissertation befasst sich mit dem kritischen Programm einer Genealogie nach Charles Taylor und Michel Foucault. Er interessiert sich durchaus unspezifisch für Politisches Denken, zeitgenössische Sozialphilosophie und Ideengeschichte.

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