theorieblog.de | Ausschaffungsinitiative: Wenn die direkte Demokratie mit den Menschenrechten in Konflikt kommt

9. Dezember 2010, Cassee

Nun ist es also wieder passiert. Ziemlich genau ein Jahr, nachdem sich die Schweizer Stimmbevölkerung der „Islamisierung“ durch vier Gebetstürme auf ihrem Territorium erwehrte und ein Verbot von Minaretten zum Verfassungsgrundsatz erhob, ist am 28.11.2010 mit der Ausschaffungsinitiative ein weiteres rechtspopulistisches Ansinnen der wählerstärksten Schweizer Partei SVP von Volk und Ständen gutgeheissen worden.

Ausländerinnen und Ausländer, die sich einen „missbräuchlichen Bezug von Leistungen der Sozialhilfe oder der Sozialversicherungen“ oder eines von mehreren anderen vage umschriebenen Delikten zuschulden kommen lassen, sollen in Zukunft automatisch abgeschoben werden. Unabhängig davon, ob sie in der Schweiz sozialisiert wurden, wie schwer ihr Delikt im einzelnen wiegt – und ob ihnen im Herkunftsland Folter droht. Letzteres stellt einen eindeutigen Verstoß gegen das völkerrechtliche Prinzip des „Non-Refoulement“ dar, welches verbietet, Flüchtlinge in ein Land abzuschieben, in dem sie bedroht sind.

Das Ja zur Ausschaffungsinitiative, das im Gegensatz zur Annahme des Minarett-Verbotes wenig überraschend kam, schürt Zweifel an der Attraktivität des direktdemokratischen Modells der Schweiz und wirft eine Reihe sowohl empirischer als auch normativer Fragen auf.

Erklärungsversuche

Wie konnte es überhaupt zu diesem Abstimmungsresultat kommen?

Eine nicht unwesentliche Rolle dürfte die aggressive Werbekampagne der SVP gespielt haben. Ein schwarzes Schaf, das von weißen Schafen buchstäblich aus der Schweiz herausgekickt wird: Dieses Plakat liess die SVP schon während der Sammlung der 100’000 für eine Abstimmung nötigen Unterschriften in der ganzen Schweiz aushängen. Kurz vor der Abstimmung folgte dann das Sujet eines „Verbrechers“ mit schwarzem Balken vor dem Gesicht (in Wirklichkeit ein kanadisches Fotomodell) mit der Aufschrift „Ivan S., Vergewaltiger – bald Schweizer?“. Auch vor dem Kinderschänder „Detlef S.“, dem Namen nach wohl deutscher Herkunft, wurde die Schweizer Bevölkerung nachdrücklich gewarnt. Vier Millionen Franken kostete die Kampagne laut SVP-Mäzen und Alt-Bundesrat Christoph Blocher. Ob diese Zahl stimmt, lässt sich nicht überprüfen – die Kampagnenbudgets müssen nicht veröffentlicht werden.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Finanzen einen wesentlichen Einfluss auf das Resultat von Volksabstimmungen ausüben. Im Zusammenhang mit dem Engagement des Wirtschaftsverbandes Economiesuisse für den Beitritt der Schweiz zur Uno im Jahr 2002 hatte dessen Präsident gegenüber dem „Tages-Anzeiger“ erklärt: „Wir setzen stets so viel Geld ein, wie nötig ist, um die Abstimmung zu gewinnen.“ (vgl. dazu einen Artikel in der Wochenzeitung WOZ). Diesmal blieb der Griff in die Economiesuisse-Kasse aus. Ganz unabhängig davon, wie man im allgemeinen zum intransparenten Einfluss finanzmächtiger Interessengruppen auf die direkte Demokratie steht – in diesem Fall wäre die Wirtschaftslobby wohl der einzige Akteur gewesen, der die Mittel gehabt hätte, das Resultat zu kehren.

Auch das Lavieren der bürgerlichen Mitte, das nach der Annahme der Minarett-Initiative eine neue Dimension annahm, spielte der SVP in die Hände. Demoskopisch orientierte Politiker versuchten den „Volkswillen“ mit fremdenfeindlichen Vorschlägen zu bedienen, allen voran Christophe Darbelley, der Präsident der Christlichdemokratischen Volkspartei CVP, der vorübergehend gar ein Verbot von muslimischen und jüdischen Friedhöfen forderte. Er entschuldigte sich kurz darauf, doch die Episode sollte wegweisend sein für die ambivalente Antwort der anderen bürgerlichen Parteien auf den SVP-Kreuzzug gegen die Ausländer und die „fremden Vögte“ des internationalen Rechts: „Eigentlich habt ihr recht, aber so etwas darf man doch nicht laut sagen“, war die Message, die am Stammtisch ankam. Dass es bei den Menschenrechten um mehr geht als um political correctness, wurde kaum deutlich gemacht.

Die SVP diktiert seit Jahren die Begrifflichkeit, mit der die politische Debatte in der Schweiz geführt wird. Das Wort „Asyl“ ist in den Köpfen fest mit „-missbrauch“ verbunden, und JournalistInnen, die ein Textprogramm mit automatischer Vervollständigung verwenden, dürfte beim Tippen des Worts „Ausländer“ gleich die Ergänzung „-kriminalität“ vorgeschlagen werden.

Statt klar und deutlich zu sagen, dass wir in der Schweiz kein Ausländer-, sondern ein Fremdenfeindlichkeitsproblem haben, haben sich die anderen großen Parteien im Wesentlichen an das SVP-Framing angepasst. Um der Blocher-Partei den Wind aus den Segeln zu nehmen, wurde im Parlament ein Gegenentwurf zur Ausschaffungsinitiative ersonnen, eine Art Ausschaffungsinitiative light, die dem Originaltext der SVP in der Abstimmung entgegengestellt wurde. Bezeichnenderweise wurde der Gegenentwurf bisweilen damit beworben, dass er in einigen Hinsichten noch weiter ging als die Initiative.

Angesichts der drohenden Abstimmungsniederlage sprachen sich auch prominente ExponentInnen der Sozialdemokratie für ein taktisches Ja zum Gegenentwurf aus. Man müsse „die Ängste in der Bevölkerung ernst nehmen“, wurde gerne betont. Das sollte man zweifellos. Doch geschürte Ängste vor dem Fremden ernst zu nehmen, indem man die imaginierten Gefahren bekämpft, ist etwa so sinnvoll wie Polizeischutz zur Therapie einer paranoiden Persönlichkeitsstörung. Indem die „Problemanalyse“ der SVP bestätigt wurde, arbeitete der Gegenentwurf mehr für als gegen die Initiative.

Dürfen solche Initiativen zur Abstimmung gelangen?

Unabhängig davon, wie überzeugend diese oder andere Erklärungsversuche für das eingetretene Abstimmungsresultat sind, stellt sich die Frage, ob Vorlagen wie die Minarett- oder die Ausschaffungsinitiative, welche die Menschenrechte ritzen, überhaupt zur Abstimmung gelangen sollten.

Die Schweizer Verfassung sieht zwar die Möglichkeit vor, eine Initiative trotz der nötigen 100’000 Unterschriften von Stimmberechtigten für ungültig zu erklären. Doch die Gründe für eine solche Ungültigkeitserklärung sind auf Verletzungen der „Einheit der Materie“ und der so genannten zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts beschränkt. Und die urteilende Instanz ist nicht etwa ein Verfassungsgericht, das einigermaßen politisch unabhängig wäre, sondern vielmehr das Parlament, dessen Mitglieder in ihrer Mehrheit kaum die Gefahr eingehen wollen, aufgrund einer Ungültigkeitserklärung zu „Anti-DemokratInnen“ gestempelt zu werden.

Insofern kommt die Schweizer Regelung zumindest in der Praxis den Forderungen des Genfer Republikaners Jean-Jacques Rousseau nahe, der die Einschränkung von Mehrheitsentscheiden grundsätzlich ablehnt. Er beschreibt den Übergang vom vorstaatlichen zum staatlichen Zustand als eine „völlige Entäußerung jedes Mitglieds mit allen seinen Rechten an das größere Gesamtwesen“ (Rousseau, Jean-Jacques, 2000: Vom Gesellschaftsvertrag, S. 26). Würden die Bürger bei der Staatsgründung individuelle Rechte zurückbehalten, so würde jederzeit der Rückfall in den Naturzustand drohen, da es keine Instanz gäbe, die im Zweifel beurteilen könnte, ob ein solches vorstaatliches Recht tatsächlich verletzt wird, so Rousseau. Auch den Vorschlag, Grundrechte zwar als staatliche Rechte zu verstehen, die aber durch einem einmaligen Beschluss unwiderruflich festgeschrieben werden, lehnt Rousseau mit dem Verweis darauf ab, dass es „gegen die Natur des Staatswesens wäre, wenn der Souverän ein Gesetz erließe, das er nicht auch brechen kann“ (ebenda, S. 29). Das heisst zwar nicht, dass Mehrheitsentscheide über jede Kritik erhaben sein müssen. Rousseau sieht durchaus die Gefahr, dass der Mehrheitswillen (volonté de tous) vom Allgemeinwillen (volonté générale) abweicht, der allein auf das Gemeinwohl gerichtet ist. Doch zur Vermeidung solcher Probleme können wir einzig auf die Übergzeugungskraft eines „Gesetzgebers“ hoffen, der auf das Gemeinwohl ausgerichtete Gesetze vorschlägt, ohne selbst gesetzgebende Macht zu haben. Eine institutionelle Beschränkung der Reichweite von Mehrheitsentscheiden ist ausgeschlossen.

Die liberale Gegenposition geht auf John Locke zurück, der den Gesellschaftsvertrag in Two Treatises of Government als ein Mittel zur Absicherung natürlicher Rechte versteht: Wir treten unser Recht auf Selbstjustiz an den Staat ab, um unsere natürlichen Eigentumsrechte (einschließlich des Eigentums am eigenen Körper) zu schützen. Da der Zweck des Staates im Schutz natürlicher Rechte begründet ist, findet die Kompetenz der gesetzgebenden Gewalt an ebendiesen Rechten ihre Grenze.

Eine moderne Variante der liberalen Position findet sich bei John Rawls, der die Legitimität eines Staatswesens daran bemisst, ob die gesellschaftliche Grundstruktur Prinzipien entspricht, auf wir uns einigen würden, wenn wir nicht wüssten, welche Position wir selbst in dieser Gesellschaft einnehmen. Der Mehrheitsregel schreibt Rawls einen bloß instrumentellen Wert zu (Rawls, John, 1971: A Theory of Justice, S. 356). Ob Einschränkungen der Mehrheitsregel gerechtfertigt sind, ist dann eine Frage der politischen Klugheit: Es gilt die Gefahr einer „Tyrannei der Mehrheit“ gegen die Gefahr des Machtmissbrauchs durch VerfassungsrichterInnen abzuwägen.

Nun möchte man vielleicht einwenden, dass bei gleich gerechten Ergebnissen auf der „Output“-Seite ein demokratisches Verfahren dem richterlichen Entscheid durchweg vorzuziehen ist. Ein plausibles Konzept der politischen Legitimität sollte auch die „Input“-Kompenente berücksichtigen, und auf Ebene der idealen Theorie sollten wir wohl mit Habermas verlangen, dass Menschenrechte, welche die Ausübung der Volkssouveränität erst ermöglichen, dieser nicht von außen auferlegt werden. (Vgl. Habermas, Jürgen, 1994: Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie). Doch in der nichtidealen Theorie, die zwischen Menschenrechtsdefiziten und Demokratiedefiziten abwägen muss, scheint es mir durchaus plausibel, gewisse Einschränkungen der Mehrheitsregel als das kleinere Übel anzusehen.

Wie auch immer wir mit diesen Fragen in der normativen Theorie umgehen – in praktischer Hinsicht werden wir jedenfalls nicht darum herumkommen, um Bevölkerungsmehrheiten für die Menschen- und Grundrechte zu kämpfen. Denn entweder werden wir weiter über Vorlagen abstimmen müssen, die diese Rechte untergraben könnten. Oder aber wir ändern die Verfassung dahingehend ab, dass Initiativen einer gerichtlichen Überprüfung ihrer Menschenrechtskonformität unterzogen werden. Doch eine solche Verfassungsbestimmung könnte wiederum nur mit einer Volksabstimmung eingeführt werden.

Die Hoffnung, dass der SVP irgendwann der Wind aus den Segeln genommen werden kann, indem man bloß weit genug auf ihre Anliegen eingeht, dürfte jedenfalls auch in Zukunft kaum in Erfüllung gehen. Denn wie der Schriftsteller Peter Bichsel in einem lesenswerten Interview sagt, geht es der Partei gar nicht um eine Lösung realer Probleme, sondern um den permanenten Wahlkampf: „Blocher will die ganze Schweiz“. Die Frage ist, wann die anderen Parteien und die Bevölkerung das endlich realisieren.

Andreas Cassee ist Assistent am Lehrstuhl für Angewandte Ethik der Universität Zürich. In seinem Dissertationsprojekt beschäftigt er sich mit der Frage, ob Staaten aus moralischer Sicht dazu berechtigt sind, die Zuwanderung auf ihr Territorium zu beschränken.


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