theorieblog.de | Wikipedia: freies Wissen oder Wahnsinn?

27. Oktober 2010, Voelsen

Bis jetzt hatte ich mir Wikipedia immer als einen Ort vorgestellt, an dem grosso modo „der zwanglose Zwang des besseren Arguments“ herrscht. Weit gefehlt. Was folgt, ist der Bericht eines verstörenden, dabei aber nicht wenig unterhaltsamen Selbstversuchs, der mich in die Untiefen von Wikipedia geführt hat. Anlass war der Versuch, einen Link zu unserer Liste von von „Professuren im Bereich der politischen Theorie und Philosophie“ zu setzen. Dies löste einen Prozess aus, der über eine Reihe von Eskalationsstufen zu einem wahrlich bizarren Ergebnis führte…

Eskalationsstufe 1: Ich rufe bei Wikipedia den insgesamt wenig überzeugenden Artikel „Politische Theorie und Ideengeschichte“ auf und wage es, dort den Link zu unserer Professuren-Liste zu setzen. Erste interessante Erkenntnis: der Link kann erst erscheinen, wenn er von einem Wikipedia-Administrator oder einem „Sichter“ gesichtet wurde. Für die deutsche Wikipedia gibt es 282 solcher Administratoren und etwa 9800 Sichter. Ich habe das Vergnügen auf den admin „ot“ zu stoßen. „Ot“ weist meine Verlinkung zurück, Begründung: „Hallo, bitte beachte unsere Richtlinien für Weblinks“. Ok, gucke ich mir die mal an. Irgendwo in diesem Wust von Regeln finde ich Hinweise zu „blogs“. Zu diesen soll generell nicht verlinkt werden, „wobei Angebote besonders renommierter und zuverlässiger Institutionen und das Deeplinking einzelner Beiträge, wenn diese den Qualitätskriterien entsprechen, davon ausgenommen sind“. Na gut, ich würde sagen, in diesem Fall ist die Verlinkung gerechtfertigt, nicht weil wir als Theorieblog „besonders renommiert“ sind, sondern weil es sich bei der Liste um einen Beitrag handelt, der den Qualitätskriterien entspricht und vor allem von Interesse für die Leser des Artikels „Politische Theorie und Ideengeschichte“ ist. Denn es ist für die Leser dieses Artikels eine relevante Information, wo im deutschsprachigen Raum diese Subdisziplin der Politikwissenschaft gelehrt wird bzw. wo man zu ihr forscht. Dieses Argument unterbreite ich auch dem Admin “ot”.

Eskalationsstufe 2: Ich bitte den Admin „ot“ darum, mir mit Blick auf mein Argument zu erklären, warum er den Link gelöscht hat. Seine Reaktion: Er verweist mich auf die Diskussion um die Verlinkung eines kommerziellen Angebotes.

Eskalationsstufe 3: Zu jedem Artikel bei Wikipedia gibt es eine Diskussionsseite. Hier versuche ich nun noch einmal, meine Argumente darzulegen. Keiner reagiert, allen voran nicht der Admin „ot“. Nun lerne ich aber, dass es bei Wikipedia das Instrument der „Dritten Meinung“ gibt.

Eskalationsstufe 4: Ich bitte um eine „dritte Meinung“ und kriege diese von einem anderen Admin namens „LKD„. Seine wunderbare Replik auf meine Argumente: „Passt nach WP:WEB nicht zu uns. Gehört nicht zum Besten, ist keine lexikalisch weiterführende Information und deckt, durch die Reduktion auf D auch nur einen Teilbereich ab“. „Ot“ sekundiert: „Sehe ich genauso“. Nun gut, ich versuche es noch einmal mit Argumenten. Erkläre, warum die Liste für diesen Artikel relevant und eben nicht nur auf Deutschland beschränkt ist. „LKD“ legt nach, Kern seines Argumentes: „wie sollen wir entscheiden, ob wir nicht auch eine Liste mit Links zu BMW Händlern in Afrika aufnehmen“? Ich stimme „LKD“ darin zu, dass man nicht alles überall verlinken kann, weise ihn aber auch noch einmal auf mein Argument hin, warum ich glaube, dass dieser spezielle Link auf dieser speziellen Seite sinnvoll ist. „LKD“ reagiert nun nicht mehr, ebensowenig wie „ot“, der völlig ausgestiegen ist.

Eskalationsstufe 5: Per facebook wende ich mich an die Leser des Theorieblog und bitte darum, sich an dieser Diskussion zu beteiligen. Wenn eine Diskussion verfahren ist, kann es ja nicht schaden, neue Perspektiven dazuzuholen, so mein naiver Gedanke. Doch weit gefehlt. Nachdem es zwei anonyme Nutzer geschafft haben, sich soweit in die Wikipedia-Programmiersprache einzufinden, dass es ihnen möglich ist, einen Kommentar abzugeben, der sich für den Link ausspricht, werden sie (und ich) gleich von „LKD“ beschimpft. Zweifelsfrei, so LDK, habe ich mir einfach neue Accounts zugelegt und versuche so die Diskussion zu beeinflussen. Herzlich Willkommen, liebe Wikipedia-Einsteiger!

Eskalationsstufe 6: Da auch weiter niemand bereit ist, auf mein Argument einzugehen, versuche ich nun einen neuen Weg, den hochtrabend so bezeichneten „Vermittlungsausschuss„. Hier bitte ich darum, den Link freizuschalten und den Admin „ot“ daran zu erinnern, dass es notwendig ist, seine Entscheidungen als Admin mit Argumenten zu rechtfertigen. Wenig überraschend äußert sich „ot“ hierzu erst mal nicht, dafür kommt ein neuer Admin ins Spiel, „Port(u*o)s„. „Port(u*o)s“ schlägt nun als Vermittlungslösung vor, die Liste komplett in Wikipedia zu integrieren, daraus also eine eigene Wikipedia-Seite zu machen. Und macht das dann auch gleich mal.

Eskalationsstufe 7: Ich versuche, dem an sich verständigen „Port(u*o)s“ zu erklären, warum ich das für keine glückliche Lösung halte, weil ohne einen klar ersichtlichen Verweis auf den Theorieblog unser Beitrag und der unserer Leser verloren geht. Er wirft mir vor, dass es mir anscheinend immer nur um „Blogmarketing“ gegangen sei. Genau, und gleich gehe ich in den Keller und zähle all das viele Geld, das wir mit dem Theorieblog verdienen. Trotzdem ist „Port(u*o)s“ aber bereit, die Wikipedia-Liste wieder zu löschen. Ich biete dafür an, die Sache damit auf sich bewenden zu lassen. Allerdings, so „Port(u*o)s“ könne er selbst die Löschung nicht vornehmen, weil er dann „Admin-Probleme“ bekommen würde. Ich stelle also einen sogennannten „Schnelllöschantrag“, verweise auf die Diskussion und die Übereinkunft zwischen „Port(u*o)s“ und mir und gehe davon aus, dass sich die Sache damit erledigt hat.

Eskalationsstufe 8: Doch weit gefehlt! Mein Vorschlag, die Liste zu löschen wird zurückgewiesen. An vorderster Front erscheint nun der schon bekannte Admin „LKD“. Er sieht keinen Grund, die Liste zu löschen, in feinstem Wikipedia-Sprech: „Einspruch. Kein Schnellöschgrund. Wennschon LD“. Was auch immer “LD” bedeuten mag. Andernorts bezeichnet „LKD“ die Liste gar ganz ironiefrei als einen enzyklopädischen Augenschmeichler. Nun kommen weitere Nutzer dazu, die mir erklären, warum die Liste doch eine wichtige Information ist.

Eskalationsstufe 9: Mir ist als träumte ich. Als nächstes versuche ich darauf hinzuweisen, dass es sich hier um eine Urheberrechtsverletzung handelt. Vielleicht juristisch nicht 100% wasserdicht, aber wenn man eine Liste 1:1 kopiert, geht das ja doch stark in die Richtung. Doch wiederum falsch gedacht. Nur eine Minute, nachdem ich den Antrag auf Überprüfung der Urheberrechtsverletzung gestellt habe, weist Admin „DerHexer“ ihn zurück, Begründung: „Diese Liste hat keine Schöpfungshöhe“.

Eskalationsstufe 9 1/2: Admin „LKD“ hat Blut gerochen und mal geguckt, was ich noch so bei Wikipedia gemacht habe. Dabei stellt er fest, dass ich im April mal eine Rezension des neuen Buches von Safran Foer verlinkt habe. Da muss ein anderer Admin nicht aufgepasst haben, „LKD“ jedenfalls erkennt die Gefahr sofort und löscht auch diesen Link

Fazit: Nachdem mir erst wochenlang keiner glauben wollte, dass unser Link keine Bereicherung für die Wikipedia ist, nachdem niemand mit mir ernsthaft darüber diskutieren wollte, hat die Admin-Gang von Wikipedia sich die Liste nun einverleibt. Und versucht auch sonst, meine Aktivitäten dort zu unterbinden.
Ich hatte eigentlich vor, diesen Bericht mit ein paar allgemeineren Überlegungen abzuschließen, habe mich aber nun entschieden, dies lieber euch zu überlassen. Wie dieser FAZ-Artikel und auch die Arbeit von „Wiki-Watch“ zeigen, handelt es sich bei dem, was ich hier beschreibe, keinesfalls um einen Einzelfall, sondern um ein strukturelles Problem. Und dies wirft meiner Meinung nach eine ganze Reihe interessanter Fragen sowohl für die politische Theorie, als auch für die empirische Politikwissenschaft auf. Unter anderem: Wer regiert eigentlich die Wikipedia? Ist das Ideal einer zwanglosen Verständigung hier unter den gegebenen institutionellen überhaupt noch erreichbar? Oder entwickelt sich Wikipedia tatsächlich, wie in dem genannten FAZ-Artikel befürchtet, zu einem exklusiven Club? Lassen sich von den Entwicklungen bei Wikipedia allgemeinere Hinweise zum demokratischen Potential des Internets ableiten? Eine Anekdote wie der hier beschriebene Selbstversuch kann auf diese Fragen sicherlich keine befriedigende Antwort geben, wohl aber Anlass zu weitergehender Beschäftigung sein.

Update (4.11.2010): Die Liste wurde bei Wikipedia nun doch wieder gelöscht. Da könnte man jetzt auch noch mal einiges zu sagen, will ich aber nicht. Freuen würde ich mich aber, wenn ihr uns dabei helfen würdet, unsere Liste auf dem aktuellen Stand zu halten!


Vollständiger Link zum Artikel: https://www.theorieblog.de/index.php/2010/10/wikipedia-freies-wissen-oder-wahnsinn/