Wider das Blockdenken von Schwarzer & Co.

Mit ihrem neuen Buch „Die große Verschleierung. Für Integration, gegen Islamismus“ läutet Alice Schwarzer eine neue Runde in der Debatte über Kopftuch und Verschleierung ein. Dafür erhält sie viel Beifall – auch von Iris Radisch, die Schwarzers Buch in der ZEIT wohlwollend bespricht. Die Entschiedenheit, mit der die Bedeutungsoffenheit des Kopftuchs als Symbol geleugnet und die Komplexität der Materie ignoriert wird, ist befremdlich. Schwarzers und Radischs Haltung in dieser Debatte zeugt von einem gefährlichen Blockdenken.

Schwarzer und Radisch gehen in ihrer Argumentation von ihrer inneren Gewissheit aus, dass das Kopftuch eine zeit-, orts- und personenungebundene, „objektive“ Bedeutung besitzt (vgl. hierzu auch kritisch: Patrick Bahners in der FAZ). In Radischs Worten:

„Das Kopftuch ist wie auch die Burka ein politisches und religiöses Symbol. Beide Kleidungsstücke folgen einem Menschenbild, nach dem Frauen unrein und dem Mann nachgeordnet sind. Der Schleier hat den Sinn, die durch das bloße Frausein verlorene Würde wiederzuerlangen. Eine unverschleierte Frau ist deswegen immer würdelos.“

Wenn dies stimmte, so wäre die entschlossene feministische Opposition gegen das Kopftuch klar nachvollziehbar. Nun verhält es sich aber so, dass es sich bei Radischs Deutung des Kopftuchs mehr um eine Hypothese als um eine echte Gewissheit handelt. Es ist kaum zu bestreiten, dass Radischs Deutung zutreffen kann. Jedoch beachtet sie nicht, dass auch andere Deutungen existieren. Am ehesten ist dies übrigens in Europa zu erwarten, wo Musliminnen an einer westlich-liberalen Kultur partizipieren – und sich an ihr abarbeiten. Sie entwickeln eine Identität in Auseinandersetzung mit ihrem Glauben und dem gesellschaftlichen Kontext, in dem sie leben. Dabei assimilieren sie sich nicht notwendig an die Mehrheitskultur, sondern machen unter Umständen ihr Recht auf eine von dieser Kultur abweichende Identität geltend, indem sie etwa mit dem Kopftuch bewusst den westlichen Idealen weiblicher Freizügigkeit etwas entgegensetzen (vgl. hierzu im theorieblog: „Veilded Threats?“ sowie Ingrid Thurners Artikel in der SZ: „Der nackte Zwang“). Wieso ist die Vorstellung so unplausibel, dass das Kopftuch gerade im europäischen Kontext ein Symbol für ein kämpferisches Freiheitsstreben sein kann – für die positive Freiheit, der eigenen Identität auch gegen Widerstände Ausdruck zu verleihen? Etwas salopp mit Harald Martenstein gesagt:

„Das Kopftuch sei bei Mädchen inzwischen das beliebteste Provokationsinstrument, auch bei Mädchen ohne Migrationshintergrund. Das Kopftuch entfalte bei den Eltern und den Lehrern eine viel radikalere Wirkung als, sagen wir mal, ein Tattoo mit dem Porträt von Dieter Bohlen oder ein Irokesenhaarschnitt. Man müsse sich nur einmal einen durchschnittlichen Post-68er-Haushalt vorstellen, Vollbild Manufactum, und morgens sitzt die 16-jährige Tochter auf einmal mit Kopftuch am Frühstückstisch und verlangt, zwangsweise mit ihrem Cousin verheiratet zu werden. Da fällt doch die Mutter auf die Knie und fleht ihre Tochter an, sich stattdessen lieber ein Intimpiercing machen zu lassen.“

Diese überspitzte Formulierung bringt etwas Entscheidendes auf den Punkt: Gerade mit Blick auf Minderheiten in Einwanderungsländern ist die Annahme einer einzig und allein gültigen Deutung des Kopftuchs hochproblematisch (vgl. hierzu auch im theorieblog: „Europas Furcht vor dem Fremden“). Eine solche Haltung riskiert, Musliminnen zu entmündigen und unter Einwanderinnen einen Eindruck zu erwecken, der deren Begeisterung für ihre Wahlheimat nicht unbedingt steigern dürfte: nämlich dass die Rechte, welche die liberale Demokratie gewährt, immer nur die Rechte der anderen sind – derjenigen, die „schon immer“ da waren.

Auf die Möglichkeit anderer Deutungen des Kopftuchs als die von Radisch und Schwarzer hinzuweisen, bedeutet im Übrigen nicht, Rechtsverletzungen zu entschuldigen, wie gerne unterstellt wird. Auch Radischs Artikel hat diesen anklagenden Ton:

„Das Buch enthält einige erschütternde anonyme Erzählungen von jungen Frauen, die von Stiefvätern oder verschleierten Mitschülerinnen sukzessive unter das Kopftuch gezwungen wurden. Lehrerinnen berichten davon, wie immer mehr junge, moderne Mädchen nach den Sommerferien in ihren Heimatländern plötzlich mit Schleier und langem Mantel in ihre deutsche Schule zurückkehren. Im Namen der religiösen Freiheit wird diese Entwicklung von vielen verteidigt.“

Diese Behauptung ist suspekt, denn es ist absurd, Kopftuchzwang unter Verweis auf die Religionsfreiheit verteidigen zu wollen, da diese ja gerade auch die Freiheit von religiösen Bekenntnissen und Praxen miteinschließt. Bei der Religionsfreiheit geht es darum, dass in Glaubensdingen kein Zwang ausgeübt werden darf. Das gilt aber nicht nur für den Zwang zum Kopftuchtragen, sondern auch für den Zwang, keines zu tragen.

Merkwürdig ist auch die Dramaturgie von Radischs Artikel und ähnlichen Texten, die immer wieder drastische Schilderungen brutaler Misshandlungen von Frauen in Zusammenhang mit Verschleierung in anderen Regionen der Welt einbauen: die muslimischen Länder, „in denen Frauen und Mädchen unter Lebensgefahr auf die Burka verzichten, ausgepeitscht, gefoltert und erschossen werden, weil sie die Verschleierung ablehnten“ oder „wo Frauen für ein verrutschtes oder nachlässig gebundenes Kopftuch Salzsäure ins Gesicht gekippt wird“. Radisch hält es für „falsch, die Burka- und Kopftuchfrage aus dem kulturellen Zusammenhang ihrer Herkunftstaaten zu lösen“. Ihrer Ansicht nach sollte „die Kopftuchrate in deutschen Schulen“ im Lichte von „Traditionslinien und politische[n] Zusammenhängen der Islamisierung zum Beispiel in Iran, im Irak, in Afghanistan, Pakistan und Algerien“ diskutiert werden. Eine Begründung dafür liefert sie nicht. Es ist aber alles andere als klar, warum die Geschehnisse in anderen Weltregionen für die Kopftuchthematik in Deutschland entscheidender sein sollten als der gesellschaftliche Kontext hier vor Ort, wo eine liberale Demokratie und ein Rechtsstaat etabliert sind und Muslime eine Minderheit bilden.

Schwarzers und Radischs Haltung zeugen von einem von Charles Taylor anschaulich beschriebenen „Blockdenken“, das eine facettenreiche Realität in eine unauflösbare Einheit verschmilzt. Das heißt, dass von allen islamischen Symbolen angenommen wird, dass sie sich in jeder einzelnen Manifestation letztlich immer auf die gleichen grundsätzlichen Sinngehalte reduzieren lassen und dass jede Muslimin und jeder Muslim hinter diesen „Kernbedeutungen“ steht (vgl. hierzu Taylor’s Vorwort in dem von Modood/Levey hg. Buch „Secularism, Religion and Multicultural Citizenship (2009) “). Es ist zwar richtig, dass jenseits des Elfenbeinturms Komplexitätsreduktionen nötig sind. Dies gilt jedoch nur bis zu einem gewissen Grad. Spätestens wenn zentrale Unterscheidungen nicht mehr getroffen werden und die eigenen politischen Neigungen wichtige Dimensionen der Realität zu überstrahlen drohen, geht die Entdifferenzierung zu weit.

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