Zwischen Ambivalenz und Ordnung: Die Politik der Menschenrechte

Der Holocaust, als ein Moment unermesslichen Schreckens, habe einen „unaufhaltsamen Lernprozess“ in Gang gesetzt, der ex negativum die Bedeutung der Menschenrechte gelehrt habe und zu einer kulturübergreifenden globalen Ordnung führe: Mit dieser Diagnose eröffnete Stefan Gosepath die zweitägige Konferenz „Human Rights Today: Foundations and Politics“ des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität Frankfurt.

Die anspruchsvolle Tagung schien in ihrem Verlauf einen einheitlichen Ursprung, Begründungszusammenhang und die Universalisierbarkeit der Menschenrechte jedoch gleichermaßen in Frage zu stellen und folgte daher widersprüchlichen Pfaden: Zum einen implizierte das Tagungsprogramm eine Arbeitsteilung, der zufolge zu Beginn die Philosophen den normativen Gehalt der Menschenrechte historisch rekonstruktiv und argumentativ begründen würden. Ein sinnvoller methodologischer Ausgangspunkt der Untersuchung der Rechtfertigungsmodi der Menschenrechte sei die Teilnehmerperspektive, betonte einleitend Rainer Forst. Erst in den folgenden Panels sollten der Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Religion wie auch Kultur erforscht werden. Der Prozess der Verwirklichung der Menschenrechte in der Politik eröffne jedoch „Paradoxien“, räumte Christoph Menke in seinen einleitenden Bemerkungen ein, die auf die Interpretation des Gehalts der Rechte rückwirkten. Daher könne die Anwendungsebene nicht allein als Folge der theoretischen Fundierung analysiert werden. Diese unterschiedlichen konzeptionellen Vorüberlegungen bezüglich der Form und des Inhalts der Menschenrechte seitens der Organisatoren deuteten bereits die Spannungsbögen an, welche die einzelnen Podien durchzogen.

Im ersten Podium schlug Charles Beitz (Princeton) eine Methodik zur Erschließung der Menschenrechten vor, die Normativität und Praxis miteinander verbinden sollte, indem sie auf zwei unterschiedlichen Ebenen zugleich operiert: Allgemeines Ziel der Menschenrechte sei es, die dringlichsten menschlichen Interessen einzelner Individuen gegenüber vorhersehbaren Gefahren zu schützen. Daraus ergebe sich für den Staat die primäre Verantwortung, diese Rechte zu verteidigen. Auf der anderen Seite impliziere diese Einsicht, dass externe Staaten das Recht auf Intervention verteidigen müssten, wenn ein Staat nicht in der Lage oder willens ist, diesen Schutz zu gewährleisten. Der Inhalt der Menschenrechte, so die praktische Natur dieses Zugangs, ergebe sich aus der Bereitwilligkeit der Staaten, die zwei Seiten des Modells umzusetzen. Ein öffentlicher Diskurs lege dabei offen, was als Gründe akzeptiert werde, um in die lokalen Praktiken anderer Staaten zum Schutz der Menschenrechte einzugreifen. Dieser diskursiv herbeigeführte Konsens ergebe die Inhalte der Menschenrechte. John Tasioulas (Oxford) forderte dagegen einen „orthodoxen“ Begründungszusammenhang der Menschenrechte: Als grundlegende moralische Rechte des Menschen seien die Menschenrechte durch die menschliche Vernunft für jedermann objektiv erkennbar. Ihre ultima ratio fänden sie in der spezifischen Würde, die uns Menschen von anderen Lebewesen unterscheide.

Die Möglichkeit transnationaler Übereinkunft durch diskursiven Gründe oder aufgrund der Einsicht einer universellen Vernunft wurde von Abdullahi Ahmes An-Na’im (Emory) im Podium über die interkulturelle Gültigkeit der Menschenrechte vehement in Frage gestellt: Es sei letztlich irrelevant, warum einzelne Staaten der Menschenrechtserklärung folgten. Diese sei lediglich ein Mittel zur Realisierung eines politisch emanzipativen Programms, das unterschiedlichen Begründungslogiken folgen könne. Global einem einheitlichen Gründungsmythos oder einer bestimmten Rationalität der Begründung zu folgen, sei die imperiale Fiktion einer hegemonialen Elite.

Die von Tasioulas betonte menschliche Würde als normative Quelle der Menschenrechte wurde erneut beim Abendvortrag von Jürgen Habermas Gegenstand der Debatte. Das Janusgesicht der Menschenrechte sei der Moral und dem Recht gleichermaßen zugewandt: Die Aufladung, oder mögliche „Überfrachtung“ der Menschenrechte seit dem Zweiten Weltkriegs durch den Begriff der menschlichen Würde offenbare deren moralischen Mehrwert. Der Aufschrei der Beleidigten und Erniedrigten habe seither die erweiterte Festschreibung ihrer Würde im Recht gefordert, um sie vor weiteren Missachtungserfahrungen zu bewahren. Die Menschenwürde bildet daher den utopischen Kern der Verallgemeinerung der absoluten Würde des Einzelnen als abstrakte Würde im positiven Recht. Ob diese moralische Quelle zu einer allgemeinen „Rechtspflicht“ zur Realisierung dieser Rechte führe, ließ Habermas zögerlich offen. Die aktuelle Rhetorik der Menschenrechte, räumte er jedoch ein, delegitimiere vielerorts ihren utopischen Gehalt: Als Mittel der Machtpolitik und durch die Kodifikation in zweifelhaften Menschenrechtspakten verrate die Politik der Menschenrechte ihren universellen Kern.

Susanne Baer (Berlin) beleuchtete ebenfalls die Anwendungsebene der Menschenrechte und die ihr zugrundeliegenden Machtverhältnisse. Im Podium über „Menschenrechte und Religion“ äußerte sie Frustration  über die Selektivität der Menschenrechtspolitik. Die Ungleichheit innerhalb der „politischen Ökonomie“ der Menschenrechte, führe zu einer Einseitigkeit dessen, was als Menschenrechtsverletzung überhaupt in den Blick genommen werde. Ein kritischer Okzidentalismus erfordere ein Transparent-werden dieser asymmetrischen Selektivität, um die befähigende Seite des Menschenrechtsregimes zu stärken. Sie wandte sie zudem gegen eine essentialistischen Aufladung der Menschenrechte zur Religion – als Form eines neuen „Fetischismus“. Ihr Mitstreiter auf dem Podium Hans Joas (Erfurt) beschrieb dieses Verhältnis der Menschenrechte zur Religion dagegen als ein Moment der Sakralisierung der Person, der durch kommunikative Prozesse zwischen Menschen in Reinterpretation der eigenen Religion und Geschichte vollzogen werde. Desweiteren, so warnte Baer, verkenne eine Sichtweise, welche die Menschenrechte als durch einzelne Religionen bedroht oder als mit ihnen möglicherweise kompatibel konstruiere, das Individuum als den Rechtsträger der Menschenrechte – mit möglicherweise religiöser Zugehörigkeit. Rücke man hingegen das Kollektiv als Rechtsträger in den Mittelpunkt der Debatte, ermögliche dies gefährliche Momente eines stereotypisierenden Othering (einer Festschreibung von der Andersartigkeit) von religiösen Gruppen, das die Verletzung individuelle Rechte möglicherweise legitimiere und kaschiere.

Die von Susanne Baer eingeforderte Unterscheidung von kollektiven und individuellen Rechten wurde ebenfalls zum zentralen Fokus von Seyla Benhabibs (Yale) Beitrag zur Debatte, jedoch in Verfechtung der Gruppenrechte. Mit Verweis auf die Genozidkonvention als zentrales Element der Menschenrechte, konfrontierte Benhabib den Begriff der Würde mit demjenigen der Diversität. Ihre normativen Überlegungen antworteten auf die Frage, wann einzelne Minderheiten durch kulturelle Gruppenrechte unterstützt werden sollten. Sie schlug vor, die Fähigkeit zur Selbstzuschreibung des Individuums in seiner oder ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe und die Möglichkeit zum selbstbestimmten Verlassen derselben als Bedingung der Anerkennung der jeweiligen Gruppe zu setzen. Für diejenigen, die einer Gruppenzuschreibung entkommen wollten, müsse die jeweilige politische Gemeinschaft konkrete Ausgangsoptionen zur Verfügungen stellen, um deren egalitären Partizipationschancen innerhalb der Mehrheitsgesellschaft  zu gewährleisten.

Einleitend in das abschließende Panel zur „Politik der Menschenrechte“ verwies Christoph Menke in Anlehnung an Robespierre auf die „transformative“ Seite der Politik: Dem folgend stellten die beiden abschließenden Redner die formale Gestalt der Konferenz infrage, indem sie gegen deren Ende die semantische Unbestimmtheit und konstitutive Ambiguität der Menschenrechte behaupteten. Die Menschenrechte seien aufrührerisch, so Étienne Balibar (Paris), und man könne nie sicher gehen, welchem der widerstreitenden emanzipativen Interessen sie sich gerade dienlich zeigten. Diese Antinomie der Menschenrechte ermögliche zugleich ihren politischen Kern: Realisiert würden sie notwendig innerhalb einer Gemeinschaft von Bürgern, deren institutionelle Form, Exklusionslinien und konkreten Inhalte stets streitbar bleiben müssten. Es bedürfe daher einer „Politik der Politik“ der Menschenrechte, die noch über das Arendtsche Diktum eines Rechts auf Rechte hinausginge und daher die Politik selber zum Gegenstand der Auseinandersetzung mache. Eine Übersetzung der Menschenrechte in ein ideales Institutionengebäude nationalen und globalen Ausmaßes wäre dieser Position zufolge ein unabschließbares Unterfangen.

Die Unauflöslichkeit der Antinomien der Politik der Menschenrechte wurde gleichermaßen bei Costas Douzinas (London) eine zentrale These seines Vortrags. Die „Menschheit“  der Menschenrechte sei eine Erfindung der Moderne. Die ihr zugrundliegenden Universalisierungsbestrebungen hätten historisch fortlaufend neue Exklusionslinien gefunden: Wer heute die Menschenrechte in Europa einfordert und zugleich dem Fremden an den Grenzen keine Rechte zugestehe, perpetuiere eben diesen Mechanismus. Zudem ermöglichten  es die durch fortgeschrittenen Kapitalismus verursachten Ungleichheiten den Systemgewinnern, die Menschenrechte normalisierend im Rahmen biopolitischer Kontrolle einzusetzen – beispielsweise innerhalb der Migrationspolitik, der Gesundheitsversorgung und des Antiterrorkampfes. Mit „imperialer Arroganz“ verfielen deren Apologeten einem „naiven“ Kosmopolitismus, der den Neoliberalismus stets als trojanisches Pferd mit sich führe. So ständen die sozialen und ökonomischen Rechte wenig im Fokus der liberalen Debatte über die Menschenrechte.

Dieser Politik setzte Douzinas eine „neue Politik der Imagination“ entgegen, die sich bereits in einigen Stätten des Widerstandes ankündige. Ein solcher „kommender Kosmopolitismus“ (in Anlehnung an Derrida) antworte unserer Pflicht gegenüber dem Namen Europa. Mit dieser Mahnung pflichtete er Balibar bei, der mit Bezugnahme auf einen gerade erst gemeinsam unternommenen Besuch Griechenlands der beiden Denker mit einem herausfordernden Seitenblick auf Habermas gewarnt hatte:

„Europe is collapsing, gentlemen! If we don’t resist it…“

Franziska Dübgen promovierte innerhalb des Exzellenzcluster “Normative Ordnungen“ (Frankfurt) in Philosophie. Ihre Dissertation befasst sich mit kritischen Analysen der Entwicklungszusammenarbeit und sich daraus ergebenden Fragen transnationaler Gerechtigkeit und Solidarität im postkolonialen Kontext.

4 Kommentare zu “Zwischen Ambivalenz und Ordnung: Die Politik der Menschenrechte

  1. Nur mal so zur Konkretisierung: Hat Stefan Gosepath wirklich von einem „unaufhaltsamen Lernprozess“ gesprochen? Ist das dekontextualisiert zitiert oder behauptet er wirklich eine Unaufhaltsamkeit? Für letzteren Fall: Frankfurter Luft?

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